KinderentwicklungBahn frei!

Kinder tragen den Motor für ihre Entwicklung in sich. Eltern unterstützen sie indem sie ihnen freien Lauf lassen.

Bahn frei
Purzelbäume unterstützen das Gehirn © Edith Lauenstein - plainpicture

An manche Momente erinnern sich Eltern ihr ganzes Leben lang. Es ist ja auch unvergesslich, wenn das Baby zum ersten Mal zurücklächelt, aus gebrabbelten Lauten Wörter formt oder die ersten wackeligen Schritte macht. Aber auch der Versuch, den Pullover alleine anzuziehen oder andere zu trösten, gehört zu den Meilensteinen der kindlichen Entwicklung. „Mit Entwicklung sind alle Prozesse gemeint, die die Fähigkeiten und Fertigkeiten eines Kindes erweitern. Dazu gehören einerseits motorische und sprachliche Fortschritte, ebenso aber auch geistige, emotionale und soziale Entwicklungsprozesse“, erklärt Renate Zimmer, Erziehungswissenschaftlerin mit dem Schwerpunkt frühe Kindheit. Wie sie diese Entwicklung fördern können, beschäftigt viele Eltern. Dabei ist es eigentlich ganz einfach: Die wichtigsten Voraussetzungen dafür haben Kinder von der Natur in die Wiege gelegt bekommen: Neugier und Wissensdurst. „Kinder lernen aus eigenem Antrieb und sind interessiert an allem, was ihnen begegnet, das ist insbesondere in den ersten Lebensjahren wichtig“, sagt Renate Zimmer. Schon Säuglinge sind kleine Weltentdecker, mit allen Sinnen nehmen sie ihre Umgebung war, ertasten ihr Spielzeug, riechen daran oder nehmen es sogar ganz in den Mund. Natürlich spielen auch genetische Anlagen bei der Entwicklung des Kindes eine Rolle, ebenso die Einflüsse, die von seiner Umwelt ausgehen, also das Verhalten seiner Bezugspersonen, die Anregungen, die es erhält. Es macht einen Unterschied, ob Papa abends regelmäßig mit seinem Sohn kuschelt und mit ihm zusammen Bilderbücher anschaut oder ihn alleine vor den Fernseher setzt.
Die beste Basis für eine gute Entwicklung ist ein „liebevolles Zuhause, in dem Kinder sichere Bindungserfahrungen machen“, sagt Nora Imlau, Journalistin und Fachautorin für Familienthemen. Das bedeutet, dass Eltern immer sofort reagieren, wenn ihr Baby weint, dass sie viel mit ihm sprechen, Körperkontakt halten, kuscheln und es nicht alleine in einem Zimmer schlafen lassen, um nur einige Beispiele zu nennen. „Wenn Kinder schon als Babys erfahren, dass auf ihre Bedürfnisse Rücksicht genommen wird und sie bekommen, was sie brauchen, dann entwickeln sie ein Urvertrauen, das ein Leben lang anhält.“

Bindung und Forscherdrang

Das wiederum ist die Voraussetzung dafür, dass Kinder ihren angeborenen Entdeckerdrang entfalten und sich gut weiterentwickeln. Sie können ihre Umwelt in Ruhe erforschen, weil sie wissen, dass Mama, Papa oder eine andere Bezugsperson in der Nähe sind, als eine Art sicherer Hafen, in den sie wie an einem unsichtbaren Gummiband zurückschnellen können, wenn die Situation bedrohlich wird. Sicher gebundene Kinder suchen daher ab und zu den Blick der Bezugsperson, um sich zu vergewissern, dass diese noch da ist, oder sie bewegen sich zu ihr hin und lassen sich kurz umarmen, um sich dann wieder ganz dem Spiel zu widmen. „Kinder hingegen, deren Bedürfnis nach Sicherheit nicht erfüllt ist, schaff en es gar nicht, sich auf neue Erlebnisse und Entwicklungsmöglichkeiten einzulassen, weil sie die ganze Zeit damit beschäftigt sind, eine Situation auszuhalten, die für sie extrem stressig ist“, erklärt Nora Imlau. Bei sicher gebundenen Kindern genügt es dagegen oft schon, dass die vertraute Person in Rufweite ist.

Entwicklung braucht keinen Anschub

Zudem ist es auch wichtig, dass Kinder die Möglichkeit haben, sich und ihre Fähigkeiten ungestört auszuprobieren. Viele Väter und Mütter helfen ihrem Säugling auf der Krabbeldecke, wenn er sich drehen will, ziehen ihr Baby an den Händen zum Sitzen hoch oder stapeln den entscheidenden Bauklotz so auf den Turm, dass er nicht umfällt. Das alles geschieht in bester Absicht, hilft dem Kind aber nicht wirklich weiter. Bis ein Kind etwas alleine schafft, muss es oft ausprobieren und ab und zu auch mal scheitern. Das ist ein wichtiger Teil des Lernprozesses. Wer bei den Versuchen seines Kindes, ein Problem zu bewältigen, immer gleich eingreift und die Lösung präsentiert, nimmt ihm das Gefühl, selbst etwas bewirkt zu haben.
Wobei Kinder jedoch unbedingt Unterstützung brauchen, sagt Nora Imlau, ist bei der Bewältigung ihrer Gefühle. Kinder werden ständig von angenehmen und unangenehmen Emotionen überflutet und brauchen Erwachsene an ihrer Seite, die ihnen helfen, damit zurechtzukommen. Die sie beruhigen, in den Arm nehmen, mit ihnen über ihre Gefühle sprechen. „Diese sogenannte Ko-Regulation benötigen Kinder im gewissen Maß bis zum Jugendalter, aber ganz intensiv in den ersten drei Lebensjahren, und zwar in jeder Stresssituation“, erklärt Imlau. Gerade für die soziale und emotionale Entwicklung sei es wichtig, dass man Kinder in solchen Situationen nicht alleinlässt.
Immer wieder kommt es vor, dass Eltern Erwartungen an ihr Kind haben, die nicht altersgerecht sind. Ein drei Monate altes Baby kann nicht selbstständig sitzen, weil seine Muskeln dazu noch nicht ausgebildet sind. Wird es dennoch häufig hingesetzt, entwickelt es im schlimmsten Fall Haltungsschäden. Ein Zweijähriger kann noch nicht teilen, weil er sich noch nicht in andere Menschen hineinversetzen kann. Der Teil seines Gehirns, der dafür zuständig ist, muss erst noch reifen. Diese biologische Reifung kommt von selbst und braucht ihre Zeit. Man kann sie nicht beschleunigen, auch nicht durch Training oder Förderkurse.

kizz Interview

„Purzelbäume unterstützen das Gehirn”

kizz sprach mit Renate Zimmer, Erziehungswissenschaftlerin mit dem Schwerpunkt frühe Kindheit, Professorin für Sport- und Bewegungswissenschaft und Autorin zahlreicher Bücher zum Thema Bewegung

Frau Zimmer, warum ist körperliche Aktivität für die Entwicklung von Kindern so wichtig?

Bewegung ist der Motor der kindlichen Entwicklung. Sie unterstützt die physische, geistige, psychische und soziale Entwicklung. Auf der körperlichen Ebene wird über Bewegung das Herz-Kreislauf-System angeregt, die Muskulatur trainiert und die Koordinationsfähigkeit verbessert. Alle Organe des Körpers brauchen Herausforderungen, um sich optimal zu entwickeln, und genau das trainiert ein Kind quasi spielend, wenn es rennt, Treppen steigt, balanciert, springt und klettert.

Wie hängen Bewegung und soziale Entwicklung zusammen?

Über Bewegung gewinnt das Kind Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten und erwirbt so die Voraussetzungen für ein positives Selbstwertgefühl. Es lernt seine Möglichkeiten kennen, aber auch seine Grenzen, und es erfährt, dass es sich durch Üben in seinen Leistungen verbessern kann. Das Kind spürt, dass es etwas bewirken kann, etwa einen Ball in ein Tor kicken oder auf eine Mauer klettern und wieder herunterspringen. Durch Bewegung wird auch die Netzwerkbildung im Gehirn unterstützt. Jede Bewegung führt zur Aktivierung der Nervenzellen, die sich dann untereinander verknüpfen.

Was können Eltern tun, um die Entwicklung ihres Kindes zu unterstützen?

Sie sollten ihrem Kind vor allem viel Raum und Zeit fürs freie Spielen geben. Denn Spielen bringt die Entwicklung voran, die körperlich-motorische Entwicklung genauso wie die kognitive, soziale, emotionale und sprachliche. Gerade bei Bewegungsspielen erleben Kinder, dass sie Urheber von Effekten sind, dass sie etwas bewirken können. Zum Beispiel, wenn sie ein Spielauto in Fahrt versetzen, den Ballon in die Luft stoßen oder den Buggy anschieben.

Sollen Eltern ihren Kindern Angebote machen, etwa mit besonders gutem Spielzeug?

Wichtig ist, dass Kinder selbst bestimmen können, was sie spielen und wie lange. Sie sollten nicht mit Spielzeug und Angeboten überfrachtet werden. Am besten ist es, wenn Eltern sich auf das Spiel der Kinder einlassen, einfach mal mitspielen, sich anstecken lassen von der Begeisterung, mit der Kinder einem Ball hinterherjagen.

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