Kita-AlltagKommt mein Kind zu kurz?

Viele Eltern haben Angst, dass ihr Kind im turbulenten Kita-Alltag untergeht und seine individuellen Bedürfnisse nicht gesehen werden. Ist diese Sorge berechtigt?

Kommt mein Kind zu kurz?
Viele Eltern haben Angst, dass ihr Kind im turbulenten Kita-Alltag untergeht und seine individuellen Bedürfnisse nicht gesehen werden. © Mayte Torres - Getty Images

Wird mein Kind auch wirklich angemessen gefördert? Oder nehmen die Fachkräfte es in der Gruppe gar nicht wahr? Hinter solchen Bedenken steht eine Urangst vieler Mütter und Väter. Und sie ist durchaus verständlich. Ein bis drei Jahre lang war der eigene Nachwuchs zu Hause, immer im wachsamen Blick der Eltern, immer eins zu eins betreut. Um Aufmerksamkeit buhlten höchstens die Geschwister oder der Familienhund. Dazu kommt unser eigener Anspruch: Wir legen großen Wert auf die Förderung unseres Kindes, und zwar vom ersten Lebenstag an. Wir besuchen Krabbelgruppen, lesen vor, unterstützen seine Entwicklung, setzen pädagogische Reize, suchen Rat in Bergen von Elternzeitschriften oder Büchern. Einerseits ist das gut, denn aktive Elternschaft, Präsenz und Nähe sind enorm wichtig für die frühkindliche Entwicklung. Anderseits könnte man auch von einer hochbesorgten, stets vergleichenden Elterngeneration sprechen: Was kann mein Kind schon und was noch nicht? Solche Fragen quälen viele von uns mehr, als sie eigentlich sollten.

Von der Familie in die Gruppe

Und dann sitzen wir den ersten Tag in der Kita, es ist laut, es ist hektisch. Während die neue Bezugserzieherin sich um unser Kind kümmert, tröstet sie auch andere, regt zum gemeinsamen Spiel an, hat die ganze Gruppe im Blick. Klar sind da noch die Kolleginnen und Kollegen, aber wenn wir ehrlich zu uns sind, hätten wir am liebsten eine exklusive Betreuung – nur für unser Kind. Jemand, der seine Bedürfnisse und Stärken so sieht und kennt wie wir es tun. Janine Geßler, stellvertretende Einrichtungsleitung in der Hamburger ASB Werkstatt-Kita Pillauer Straße, kennt solche Sorgen. „Ich kann die Eltern gut verstehen, schließlich wollen sie nur das Beste für ihr Kind. Umso wichtiger ist es, ihnen immer wieder den Kita-Alltag und unsere pädagogische Arbeit zu erklären und im Austausch zu bleiben, bei Entwicklungsgesprächen und beim Bringen oder Abholen der Kinder“, sagt die Kindheitspädagogin. Verstehen die Eltern erst einmal die Entwicklungschancen im Kita-Alltag, verschwinden ihre Sorgen zur individuellen Förderung meistens schnell wieder.

Kinder lernen voneinander

Kindertagesstätten sind wichtige Bildungsinstitutionen. Das liegt an den vielfältigen pädagogischen Anregungen. Die Fachkräfte lesen den Kindern vor, sprechen mit ihnen, experimentieren, unternehmen Ausflüge in den Wald und in die Stadt, kochen und backen und sind so Wegbereiter der kindlichen Weltentdeckung. Vieles, was in der Kita täglich auf dem Programm steht, könnten wir Eltern unseren Kindern in diesem Umfang kaum bieten. Doch das alles sind nur die „Rahmenbedingungen“ frühkindlicher Bildung. Das vielleicht wichtigste Element für ihre Entwicklung sind die anderen Kinder. „In der Gruppe lernen Kinder unheimlich viel voneinander. Sie treffen eigene Entscheidungen und handeln Konflikte aus, entwickeln soziale Kompetenzen wie Empathie. Auch die sprachliche oder motorische Entwicklung profitiert vom Miteinander in der Gruppe“, erklärt Kristin Stammer. Die Forscherin von der Alice Salomon Hochschule Berlin beschäftigt sich in ihrer Doktorarbeit mit Gruppendynamiken in der Kita.
Auch Entwicklungspsychologen sind sich heute darüber einig, dass eine Betreuung außerhalb des Elternhauses und damit ein regelmäßiger und intensiver Kontakt zu Altersgenossen spätestens ab dem dritten Lebensjahr eine Bereicherung für jedes Kind ist. Besonders ein Aspekt sei dabei immens wichtig, erklärt Stammer, und zwar das freie Spiel. Hier lernen die Kinder die Welt kennen, probieren Dinge aus und üben ihre motorischen Fähigkeiten. Dabei entstehen Kreativität, Selbstvertrauen und Sozialkompetenzen. Kurzum: Das freie Spiel ist die beste Förderung überhaupt. Und eine der wichtigsten Aufgaben der pädagogischen Fachkräfte ist die Begleitung von Spiel- und Gruppenprozessen sowie das Bereitstellen von Materialien, die für Kinder interessant und reizvoll sind. Dabei sollten die Fachkräfte den Kindern möglichst viel Freiheit und verschiedene Entfaltungsmöglichkeiten gewähren. Doch was hat das mit den individuellen Stärken und Interessen zu tun? „Kinder verfolgen auch im freien Spiel ihre Interessen, orientieren sich an anderen und finden sich mit Gleichgesinnten zusammen“, sagt die Forscherin Stammer. Das Kind als Individuum geht also auch in der Gruppe nicht unter – ganz im Gegenteil.

Jedes Kind im Blick

Natürlich ist das Kollektiv nicht alles. Nicht umsonst stehen Individualität und ihre Förderung in den frühkindlichen Bildungsplänen inzwischen klar im Fokus. Der pädagogische Konsens: In einer guten Kita sollten sich die Kinder wohlfühlen und entfalten können, das Gefühl bekommen, mit ihren Interessen gehört zu werden, und Selbstbewusstsein entwickeln, um ihre Bedürfnisse auszudrücken. Um dem noch stärker gerecht zu werden, setzt man vielerorts auf neue Wege der Mitbestimmung. So gibt es in der ASB Werkstatt-Kita Pillauer Straße keine festen Gruppen, sondern Funktionsräume für Bewegung, kreativen Ausdruck oder Bauen. Die Kinder können zu großen Teilen selbst über ihren Tagesablauf bestimmen. „Wir erleben die Kinder im Alltag als kompetent. Sie holen sich den Input, den sie brauchen“, erklärt die Kindheitspädagogin Janine Geßler. Natürlich ist das nur eine Seite des Konzepts. Auch die Fachkräfte und ihr genauer Blick auf die Kinder bleiben wichtig – sei es beim Aufgreifen von Interessen oder bei der Beurteilung des Entwicklungsstandes.

Probleme durch Fachkräftemangel

Für letzteres gibt es im Kita-Alltag einige Möglichkeiten: Vor den jährlichen Entwicklungsgesprächen mit Eltern werden Bewertungsbögen zum Entwicklungsstand des Kindes ausgefüllt. Zusätzlich gibt es je nach Schwerpunkt der Kita, zum Beispiel Sprache, Bewegung oder Inklusion, weitere Bewertungsbögen. Auch in der sogenannten Portfolio-Arbeit werden nicht nur Kunstwerke und Bilder von Ausflügen gesammelt, sondern eben auch Lernfortschritte dokumentiert. „Wir haben uns bewusst Zeit und Platz für den regelmäßigen Austausch im Team geschaffen. So sprechen wir nicht nur über Kinder mit Förderbedarf, sondern wirklich über jedes Kind“, erklärt Geßler. Bei Bedarf wird auch die Expertise von außen eingeholt, etwa von Logopäden, Heilpädagogen oder Ergotherapeuten, die ebenfalls beim Träger arbeiten. Fällt ein Förderbedarf auf, kann so schnell reagiert werden, zum Beispiel durch ein Gespräch mit den Eltern oder dem Verweis an ein pädiatrisches Förderzentrum.
Natürlich braucht es für diesen genauen Blick Zeit und Personal. Beides ist dieser Tage in vielen Einrichtungen knapp. In neun von zehn Kitas gibt es unbesetzte Stellen. Wenn eine Fachkraft dauerhaft die Arbeit von zweien leisten muss, bleibt kaum Luft für Dokumentation. Vielerorts sind deshalb Portfolio-Ordner leer oder Entwicklungsbögen werden eilig vor den Elterngesprächen ausgefüllt statt auf Basis einer kontinuierlichen Beobachtung der Kinder. Doch das ist nicht alles: Der Fachkräftemangel gefährdet auch die Erfüllung des Bildungsauftrags. Laut einer im August 2020 veröffentlichten Studie im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung gibt es zu wenig pädagogisches Personal und zu große Gruppen. Das Fazit der Autoren: 74 Prozent der Kitakinder – das entspricht 1,7 Millionen – können in ihrer Gruppe nicht angemessen gefördert werden. Große Gruppen führten aus Sicht der Forscher zu mehr Stress und Lautstärke. Spiele und Aktivitäten, die für die Entwicklung der Kinder wichtig sind, könnten außerdem nicht im nötigen Umfang stattfinden. Oft sind die Fachkräfte froh, wenn sie die Kinder sauber, satt und unbeschadet durch den Tag bringen.
Eine Einschätzung, die Janina Greßler aus Hamburg grundsätzlich teilt. „Wir haben das Glück, gerade ein voll besetztes Haus zu sein. Aber die Qualität der Bildungsarbeit steht und fällt natürlich mit dem Personal, nicht nur mit seiner Anzahl, sondern eben auch mit seiner Qualität“, sagt die stellvertretende Kita-Leiterin. Auch im restlichen ASB-Verbund ist die Stellensituation sehr gut. Und natürlich kann eine erfahrene Fachkraft eine fehlende Kollegin für eine gewisse Zeit ausgleichen. Kritischer wird der Fachkräftemangel an einem ganz anderen Punkt, und zwar bei der individuellen Unterstützung von Kindern mit tatsächlichem Förderbedarf. „Der Fachkräftemangel trifft die schwächsten Kinder am härtesten. Also all jene, die dringend Unterstützung und manchmal sogar ungeteilte Aufmerksamkeit brauchen“, bestätigt Kristin Stammer aus Berlin. Sprachkräfte, HeilpädagogInnen oder gar TherapeutInnen sind in vielen Kitas Mangelware, selbst wenn die Einrichtungen offiziell inklusiv arbeiten. Und bekommt ein Kind mit Behinderung nur stundenweise Unterstützung, kann es nicht aktiv am Kita-Alltag teilnehmen und damit auch nicht vom Miteinander profitieren. Diese Erkenntnis ist bitter. Dennoch bleibt für alle Eltern etwas Beruhigendes: Eins kann der Kita niemand nehmen, und das sind die unzähligen Gelegenheiten zum Kontakt mit anderen Kindern. Das prägt und bewirkt mehr als jeder elterliche Förderplan.

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