Leonie ist zwei Jahre alt. Zufrieden sitzt sie in ihrem Zimmer und blättert in einem Bilderbuch. In diesem Moment ist sie völlig friedlich, bis plötzlich die Tür aufgeht und ihre Schwester Anna (4) hineinstürmt. „Was machst du?“, fragt sie neugierig und geht zielstrebig auf Leonie zu. „Darf ich das Buch auch mal haben?“ Eigentlich mag Anna das Buch gar nicht. Aber just in diesem Moment will sie es unbedingt haben. Leonie zieht es an sich. Sie will es jetzt nicht mit Anna teilen. Doch die gibt nicht nach und reißt es ihrer kleinen Schwester aus den Händen. Das Geschrei ist groß, die Ruhe dahin.
Die Bedürfnisse verstehen
Situationen wie diese kennen Eltern von Geschwisterkindern nur zu gut. Täglich gibt es Konflikte, die wie aus dem Nichts entstehen. Manchmal geht es wie bei Anna und Leonie um ein Spielzeug, das beide haben wollen. Ein anderes Mal ärgert der große Bruder seine kleine Schwester ohne jeglichen Grund. Auseinandersetzungen zwischen Geschwistern sind normal und gehören im täglichen Miteinander dazu. Sie sind sogar wichtig für die kindliche Entwicklung. Doch rückt das ältere Kind dem jüngeren ständig auf die Pelle und lässt es gar nicht mehr in Ruhe, kann das Eltern zur Weißglut bringen. Wird es auch handgreiflich, müssen Eltern manchmal eingreifen. Uwe Weiland ist Diplom-Sozialpädagoge, Systemischer Therapeut und Berater bei der Katholischen Beratungsstelle für Eltern, Kinder und Jugendliche in Köln. Er rät, in solchen Situationen die Ruhe zu bewahren und nicht zu meckern: „Wichtig ist es, dazwischenzugehen und selbst entspannt zu bleiben, auch wenn es schwerfällt.“ Sind die Kinder erst einmal getrennt, sollten Eltern das beschreiben, was sie gerade beobachtet haben: „Ich sehe, du hast Anna geschubst. Kann es sein, dass du wütend bist?“ Hier geht es darum, das Gefühl zu benennen, das eventuell Ursache des Verhaltens ist. Im Idealfall erkennen Eltern auch das Bedürfnis, das dahintersteckt, und benennen es gleich mit: „Kann es sein, dass du das Buch für dich allein haben wolltest?“ Oder: „War dir eigentlich langweilig und du wolltest mit Leonie spielen?“
Alternativen aufzeigen
„Verständnis für das Gefühl und das Bedürfnis zu haben, ist in Ordnung. Das unerwünschte Verhalten sollte aber unbedingt angesprochen werden“, sagt Weiland. Auf jeden Fall brauche das Kind Alternativen: „Was kannst du stattdessen tun, wenn du dich langweilst und mit Leonie spielen willst?“ Oder: „Was kannst du tun, wenn du wütend bist oder dich ärgerst?“ Hier helfen Anna Strategien, um sich beim nächsten Mal anders verhalten zu können.
Auf keinen Fall sollten Eltern nach dem Warum fragen, da Kinder das selten benennen können und auch nicht wollen. Weiland: „Die Frage nach dem Warum ist sehr komplex und erfordert ein hohes Maß an Selbstreflexion. Das überfordert Kinder. Sie handeln oft aus einem emotionalen Impuls oder Affekt heraus. Außerdem fühlen sie sich dadurch beschämt, angeklagt und in die Ecke gedrängt. Das ist nicht hilfreich für die Beziehung zum Kind und erzeugt zusätzlichen Stress.“ Nicht zuletzt bringe die Frage nach dem Warum auch keinen Lerneffekt im Hinblick auf das zukünftige Verhalten, denn sie sei eher problem- und nicht lösungsorientiert.
Kommt ein Geschwisterkind zur Welt, entsteht eine Ausnahmesituation. Dann ist die Wahrscheinlichkeit für Verlustängste besonders groß. Vor allem ein erstgeborenes Kind hat Angst, die Aufmerksamkeit und Liebe der Eltern zu verlieren. Es fühlt sich weniger beachtet und weniger geliebt. Eltern spüren dann, dass mit ihrem Kind etwas nicht stimmt, etwa weil es sich zurückzieht oder sehr auffällig verhält. Ältere Kinder sprechen im Idealfall über ihre Gefühle, bei jüngeren kann sich der Frust auch gegen das Baby richten. Eventuell kneifen oder beißen sie es oder werfen Dinge nach ihm. Wie auch immer Kinder ihre Gefühle zeigen, Eltern sollten verständnisvoll sein und die Situation so akzeptieren, wie sie ist. „Machen Sie sich bloß keine Vorwürfe, denn das bringt gar nichts“, sagt Uwe Weiland. Besser sei es, sich eine Strategie zu überlegen, was man dem älteren Kind bieten könne. „Toll ist es, wenn sich jetzt ein Elternteil hauptsächlich um das ältere Kind kümmert und ihm viel Zeit schenkt.“ Auch Rituale sind ideal, weil sie die Bindung stärken und Kindern helfen, mit neuen Situationen umzugehen. Das müsse auch nichts Großes sein, betont Uwe Weiland. Das Vorlesen vor dem Zubettgehen, eine Kuscheleinheit oder ein gemeinsamer Spaziergang reichen schon aus, um dem Kind Sicherheit und Orientierung zu geben. „Es geht darum, dass es weiß, dass es während dieser Zeit Mama oder Papa für sich allein hat“, sagt der Pädagoge.
Familienregeln bieten Orientierung
Um den Zusammenhalt unter den Geschwistern zu stärken und ihnen Sicherheit und Orientierung zu geben, kann es auch sinnvoll sein, einige Regeln für das Miteinander auf-zustellen. Höchstens fünf reichen nach Angaben von Uwe Weiland aus, mehr würde die Kinder nur verwirren. Der Pädagoge rät, die Regeln positiv zu formulieren, also das zu benennen, was getan werden soll, und nicht umgekehrt. Zum Beispiel: „Wir sind nett zueinander“ anstatt „Wir schlagen uns nicht“. Oder: „Wir sagen die Wahrheit“ statt „Wir lügen nicht“. Werden die Regeln mit den Kindern gemeinsam aufgestellt, halten diese sich eher daran, als wenn über ihre Köpfe hinweg entschieden wird.
Bei all dem sollten Eltern sich immer bewusst sein, dass die Beziehung zum Bruder oder zur Schwester Kinder jeden Tag vor neue Herausforderungen stellt. Im Kontakt mit den Geschwistern lernen sie, mit ihren Gefühlen umzugehen, die eigenen Interessen durchzusetzen oder anderen nachzugeben. Gerade die Familie sollte ein geschützter Ort sein, an dem Kinder sich selbst ausprobieren und den Umgang mit Autonomie und Konfliktbewältigung lernen können.