Meine Kinder haben die Breiphase schon längst hinter sich. Auch Lätzchen tragen sie nicht mehr. Sie können problemlos mit Messer und Gabel essen, begnügen sich am Tisch jedoch regelmäßig mit letzterer, was bei mir sofort einen predigthaften Wortschwall hervorruft. Einhändig essen = Schimpfen von meiner Seite. Mit offenem Mund kauen = mütterlicher Vortrag über Umgangsformen als Zeichen der Zugehörigkeit zu einer Gesellschaft. Rülpsen = politisch wahrscheinlich nicht korrekter Hinweis in Richtung: andere Länder, andere Sitten UND WIR SIND HIER SCHLIESSLICH IN EUROPA. Beim Anblick ihrer manchmal mangelhaften Tischmanieren verwandle ich mich metaphorisch in einen von Pawlows Hunden: Klassische Konditionierung, Reiz und Reflex. Allerdings fließt bei mir kein Speichel, sondern die ewig gleiche Leier: Ellenbogen runter, gerade sitzen, Klappe halten beim Kauen. Unsere Abfolge von Aktion und Reaktion hätte sich wahrscheinlich noch weiter verfestigt, hätte ich nicht unerwartet Hilfe erhalten. Von zwei wunderbaren, süßen Mädchen und einem liebenswerten Jungen.
Diese sitzen nun mit ihren Eltern für einige Tage bei jeder Mahlzeit mit uns am Tisch. Sie sind auf Besuch. Aus fernen Landen. Doch nicht sofern, dass sich die Tischsitten deutlich von den unsrigen unterscheiden würden. Auch liegen sowohl Brei- wie auch Lätzchenphase schon seit einigen Jahren hinter ihnen und ihr Alter im zweistelligen Be-reich. Nette Kinder. Sehr nett. Alle drei. Und auch lustig, angenehm, freundlich. Man sieht sofort: Da steckt jahrelanges Training dahinter, so präzise schlotzt kein Laie Essen in sich rein. Ich muss an einen Staubsauger denken. Meine Kinder offenbar auch. Sie kriegen ihre Münder während des Essens auch nicht zu – diesmal aufgrund ihrer Verblüffung über diese geballte Ladung Unsitte an unserem Küchentisch.
Unser jüngster Gast schafft es, Ei- und Speckreste von den Haaren bis hin zu den Ellenbogen zu verteilen und von seinem Hund zu erzählen, während er eine hühnereigroße Portion Pasta im Mund zwischenlagert. Beim Abräumen bemerke ich, dass sogar zwischen seinen Zehen – er trägt Sandalen – noch Teigwaren kleben. Das nenne ich Gründlichkeit. Als ich mich nach der Essensschlacht in der Küche daranmache, die Pfannen abzuwaschen, raunt mir mein Sohn entgeistert zu: „Hast du gesehen, wie die fressen?“ Ich nicke bedächtig. Er bemerkt: „Das war wirklich grausig.“ Seine Feststellung bedarf keiner weiteren Ergänzung.
Unsere Gäste sind längst wieder abgereist, doch die Erinnerung an ihre Tischmanieren wird bleiben. Auch heute noch vergessen meine Kinder ab und zu, dass man zuerst runterschluckt, bevor man vom Tag erzählt. Doch meist kommt die Zurechtweisung sofort, und zwar aus den eigenen Reihen: „Klappe halten beim Kauen, Therese!“