Es klingelt an der Tür. Ein Freund holt meinen jüngsten Sohn ab, um draußen zu spielen. Fröhlich macht sich mein Kind bereit und wirft mir noch eine Kusshand zu, bevor es um die Ecke biegt. Weg ist er. So schnell geht das. Erst vor Kurzem konnte er nicht ohne meine Hilfe sitzen, gehen, essen, laufen. Nun zieht er alleine los, wenn auch nur für ein paar Stunden. Ich freue mich über seine Selbstständigkeit und spüre gleichzeitig ein wenig Wehmut.
Eben noch war ich der Mittelpunkt seiner Welt, Nabel seines Universums, allwissend und allgegenwärtig. Es war zwar ungemein anstrengend, das Maß aller Dinge zu sein, auch wenn man genau weiß, dass dieser Zustand nie allzu lange andauert. Aber manchmal war es auch äußerst praktisch und irgendwie so geradlinig, so unkompliziert, so zack, zack, voilà. „Warum muss ich Salat essen?“ „Weil es gut für dich ist.“ Keine weiteren Fragen, Euer Ehren. „Warum muss ich schon ins Bett?“ „Weil du müde bist.“ Die Vorsitzende erklärt die Verhandlung für beendet. Zack, zack, voilà.
Ich freue mich, dass diese Phase zu Ende geht. Ganz ehrlich. Trotzdem muss ich mich auch bei meinem jüngsten Kind wieder daran gewöhnen, dass seine Welt nun plötzlich mehrere Bauchnabel hat, sein Kosmos sich ausdehnt und um neue Galaxien erweitert. Ich mag neue Galaxien, aber nicht alle sind bewohnbar, manche sind ungastlich oder gar hemmend für die Entwicklung. Dennoch wird mein Kind einige davon kennenlernen und irgendwann selbst entscheiden müssen, wo es unbesorgt landen kann und wann es die Mission besser abbricht. Elternschaft bedeutet, immer mehr loszulassen, um zu merken, was hält. Es bedeutet, zu vertrauen, dass die Kinder mehrheitlich gute Entscheidungen treffen werden. Guten Entscheidungen geht meist Erfahrung voraus. Der Erfahrung jedoch gehen manchmal schlechte Entscheidungen voraus. Wie letzthin, als meine Tochter auf die Idee kam, sie könnte ihren kleinen Bruder vom ersten Stock aus in den Garten abseilen. Neue Galaxie in Sicht! Leider entschied sich mein Sohn dafür, diese Mission anzutreten. Die Erfahrung hatte ihn gelehrt, dass man bei sturzanfälligen Aktivitäten besser einen Helm aufsetzt, also trug er während der ganzen Aktion den Motorradhelm seines Vaters. Meine Zurechtweisung, nachdem ich mir das Video der beiden von diesem Stunt angesehen hatte, wird meinen Sohn hoffentlich lehren, dass man beim Klettern stets FACHKUNDIG gesichert sein sollte. Aber eine Erfahrung war es, auch wenn sie auf einer schlechten Entscheidung basierte. Ich hoffe, dass sie dazu führt, sich das nächste Mal anders zu entscheiden.
Zum Prozess des Loslassens gehört auch, dass die eigene Rolle als Vater oder Mutter ständig im Wandel ist. Manchmal vollzieht sich dieser rasant und wir kommen kaum nach. Eben noch gaben wir den Ton an, plötzlich erklingen da ganz neue Melodien. Loslassen ist jedoch auch befreiend. Wir werden Zeugen einer Entwicklung, dürfen erleben, wie unsere Kinder eigene Meinungen formulieren, eigene Ideen umsetzen und eben auch mal alleine losziehen, um dann glücklich zu uns zurückzukehren.