Freinet-Pädagogik Die Selbsttätigkeit fördern

Die Grundlagen der Freinet Pädagogik liegen in der Selbstständigkeit und Selbsttätigkeit des Kindes. Nur ein freier Geist kann sich auch frei entwickeln. Ist dieser pädagogische Ansatz heut noch aktuell?

Freinet-Pädagogik: Die Selbsttätigkeit fördern
© Silke Wedler| Fotografie - Fotolia.de

Die Freinet-Pädagogik geht zurück auf den französischen Dorfschullehrer und Reformpädagogen Célestin Freinet (1896 - 1966). Freinet war durch einen Lungendurchschuss, den er sich im Ersten Weltkrieg zuzog, den Anforderungen des üblichen Unterrichts in der Schule nicht mehr gewachsen. Er suchte deshalb nach Alternativen in der Unterrichtspraxis, die ihn entlasten sollten. Folglich löste er die gewohnte Unterrichtsform auf und bot seinen Schülern Möglichkeiten zur Selbsttätigkeit. Unterstützt durch weitere Vertreter der Reformpädagogik (Hermann Lietz, Peter Petersen, Maria Montessori u.a.) und in Kooperation mit anderen französischen Lehrern entwickelte Freinet seit 1920 seine "Bewegung der modernen französischen Schule" (école moderne). Diesen Namen sollte die Freinet-Bewegung fortan tragen.

Selbständiges Tätigsein der Kinder steht im Mittelpunkt

Wie bei allen Vertretern der Reformpädagogik der 20er und 30er Jahre findet man auch bei Freinet die Hinwendung zum selbständigen Tätigsein der Kinder. Freinet unterscheidet zwischen "travail-jeu", der Arbeit mit Spielcharakter und "jeu-travail", dem Spiel mit Arbeitscharakter. Als Arbeit mit Spielcharakter sah Freinet alle möglichen Tätigkeiten im Alltag und im Leben der Kinder an, etwa das Fegen der Straße, das Töpfern einer Tasse oder das Malen eines Bildes. In all diesen Tätigkeiten verfolgt das Kind einen bestimmten Zweck. Spiele mit Arbeitscharakter sind alle übrigen spielerischen Betätigungen, bei denen nicht das Endprodukt der Zweck ist, sondern das Handeln selbst. Auch diese Spiele haben dem pädagogischen Ansatz Freinets zufolge aus der Sicht des Kindes etwas "Ernsthaftes" an sich und sind mit Arbeit verwandt. Spiel und Arbeit werden somit in der Theorie der Freinet-Pädagogik miteinander verbunden. Das unterscheidet die Freinet-Pädagogik von anderen pädagogischen Ansätzen, die Spiel und Arbeit strikt auseinanderhalten. Selbstverständlich war Freinet kein Verfechter der Kinderarbeit, vielmehr wollte er Kindern die Gelegenheit bieten, sich durch ihre Tätigkeiten selbst zu verwirklichen, sich zu "erschaffen".

Drei Entwicklungsrichtungen und vier Prinzipien

Die Freinet-Pädagogik lässt sich Lothar Klein zufolge (siehe Literatur) zusammenfassend in einem Dreieck symbolisch darstellen, dessen drei Seiten möglichst gleich lang sein sollen. Die Größe des Dreiecks und die Länge der drei Seiten entsprechen dabei dem jeweiligen Entwicklungsstand des einzelnen Kindes. Folgende Entwicklungsrichtungen stehen im Vordergrund:

  1. Selbständigkeit und Kompetenz - das Kind entdeckt in seinem Denken und Tun eine zunehmende Unabhängigkeit vom Erwachsenen, seine wachsende Selbständigkeit und Kompetenz.
  2. Produktivität und Selbsttätigkeit - das Kind entwickelt die wachsende Fähigkeit, seine eigenen Bedürfnisse handelnd zu befriedigen - es erwirbt Handlungsfähigkeit.
  3. Gemeinsamkeit und Partizipation - durch die Steigerung seiner Handlungsfähigkeit lernt das Kind in Gemeinschaft mit anderen zu handeln. Es erlebt Gemeinsamkeit und Partizipation und differenziert seine sozialen Verhaltensweisen aus. Das Kind versucht beständig sich entlang dieser drei Seiten zu entwickeln. Dabei muss es immer wieder ein Gleichgewicht der drei Seiten erreichen.

Der Rahmen, in dem das Entwicklungsdreieck wachsen soll - der Entwicklungsraum des Kindes - ist in der Freinet-Pädagogik durch vier Prinzipien bestimmt:

  1. Freiheit - der Freinet-Unterricht ist grundsätzlich so organisiert, dass alles frei zugänglich ist und auch ohne die Erlaubnis Erwachsener jederzeit benutzbar. Was, wie und woran Kinder lernen, ist im wesentlichen abhängig von ihrer freien Wahl.
  2. Verantwortung - das besondere der Freinet-Pädagogik ist, dass Kinder selbst die Verantwortung für ihren Lern- und Entwicklungsprozess übernehmen. Sie entscheiden selbst, was sie tun.
  3. Sinn - Sinn entsteht der Freinet-Pädagogik zufolge in der persönlichen Sinnerfüllung des Kindes. Erst in ihrem selbsttätigen Handeln und Forschen und nicht durch die Konfrontation mit Wert-, Ziel- und Moralvorstellungen der Erwachsenen entsteht, verändert und verfestigt sich Sinn.
  4. Bezug zum Leben - Sinn entsteht dort als leitendes Prinzip, wo sich Kinder nahe am Leben entwickeln können. Die Freinet-Pädagogik will so die Schule für das Leben der Kinder öffnen.

In der Kindertagesbetreuung will sich die Freinet-Pädagogik bewusst absetzen von der "Aufbewahrungspädagogik". Sie geht davon aus, dass das Wohlbefinden und die soziale, emotionale und kognitive Entwicklung von Kindern an Bewegungslust, Forschungsdrang, Eigentätigkeit und Experimentierfreude gebunden ist. Diesen Bedürfnissen sollen die Kinder möglichst uneingeschränkt nachgehen dürfen. Dabei wird kein Wert auf Perfektion gelegt, sondern die Kinder sollen in ihrer eigenen sinnlichen und unmittelbaren Erfahrungswelt auch Fehler machen dürfen.

Freinet-Pädagogik entsteht unmittelbar aus der Praxis

Typisch für die Freinet-Pädagogik ist ihre Entstehung unmittelbar aus der Praxis. Sie findet ihre praktische Organisationsform, Arbeitsweisen, Methoden und Arbeitsmittel im Dialog mit den Kindern. Darin, den Kindern das Wort zu geben, sind Freinetpädagogen konsequent. Aus der Praxis heraus, in der Kommunikation mit Kindern und in großem Umfang von ihnen selbst erstellt, entstehen Arbeitskarteien, Dokumentensammlungen, Korrespondenzen mit anderen Schulen und Arbeitsbüchereien. Grundlage dafür sind die "freien Texte" und alle weiteren Ideen und Produkte der Kinder, worin sich ihre Interessen und Bedürfnisse ausdrücken können. In der Freinet-Pädagogik helfen die Erwachsenen den Kindern vor allem darin, sich auszudrücken, ihre Bedürfnisse zu befriedigen und sie dabei unterstützend zu begleiten. Das Ziel ist, die Kinder darin zu unterstützen, dass sie selbst zwischen Möglichkeiten wählen und sich entscheiden können. Die Ziele und Vorstellungen der ErzieherInnen sollen zwar in das pädagogische Verhältnis einfließen, das Kind aber kann - seinem jeweiligen Entwicklungsstand entsprechend - frei wählen zwischen verschiedenen Möglichkeiten. Für die pädagogische Praxis und Planung bedeutet dies, dass die ErzieherInnen, abgesehen von der Verantwortung für den äußeren Rahmen und die Sicherheit der Kinder, herausfinden müssen, wo und ob sie überhaupt gebraucht werden. Im Dialog mit den Kindern tasten auch sie sich vor und lassen den Kindern Raum und Zeit sich auszudrücken und mitzuteilen.

Freinet-Pädagogik lässt sich überall und bei allen Altersstufen realisieren

Den Verfechtern der Freinet-Pädagogik zufolge ist diese bei allen Altersstufen von Kindern zu verwirklichen. Lothar Klein und Herbert Vogt haben in ihrem Buch (siehe Literaturangabe) die aus der Praxis heraus entstandenen Techniken und Methoden beschrieben. Sie betonen allerdings, dass die Techniken und Methoden nicht für alle Zeit Gültigkeit beanspruchen und einfach nur zu übernehmen sind. Vielmehr gelte es, diese Techniken und Methoden immer wieder in der Praxis an den Prinzipien der Freinet Pädagogik zu überprüfen. Das selbsttätige Handeln der Kinder stehe im Vordergrund und nicht die methodische Wahrheit. In Anlehnung an die drei Entwicklungsrichtungen des Kindes werden folgende Methoden aufgezählt: 1. Selbständigkeit - Offenes Haus, Wochenpläne, Abmeldetafeln, Dokumentensammlungen, Wahlfreiheit, jederzeit zugängliches Material und Räume, Anreize zu selbständigem Tasten und Versuchen im Alltag (Ausleihbücher, Reparaturen, verschiedene Ämter, freiwillige Dienste etc.), Organisationsformen, die eine selbständige Nutzung unterstützen (z.B. Werkstattdiplome). 2. Gemeinsamkeit - Gruppenbesprechungen und Wandzeitungen (dafür müssen Kinder nicht schreiben können), Kinderrat, Werkstatträte, Gruppentagebücher, Freizeiten. 3. Produktivität - Reparaturbücher, Werkstätten und Werkstattdiplome, Einbeziehung von allerlei Alltagsverrichtungen, Arbeitsbesprechungen, Erfindergruppen, Projekte.

Freinet-Pädagogik liefert keine für alle Zeit gültigen Methoden

Da die Freinet-Pädagogik ursprünglich mit Schulkindern entstanden ist, sind viele der genannten Elemente auf das Alter zwischen etwa fünf und neun Jahren zugeschnitten. Dennoch betonen Freinet-Pädagogen wie Klein, dass dieser Ansatz für Kinder jeden Alters brauchbar sei. Denn über die bloße Sammlung von brauchbaren Techniken und Methoden hinaus sei damit eine "pädagogische Haltung" verbunden, die "allemal für jede Altersstufe gültig" sei. Grundsätzlich gilt es, Kindertageseinrichtungen darauf hin zu befragen, ob sie die "Qualitätsmerkmale" bezüglich Freiheit und Verantwortung erfüllen. Klein und Vogt verdeutlichen dies anhand von vier Fragegruppen, die sich Erzieher/innen in Kindertageseinrichtungen stellen können und anhand derer sich die Qualitätsmerkmale überprüfen lassen: "1. Wie offen und frei ist unsere Einrichtung? In welchem Umfang besteht freier Zugang zu Räumen und Material? Wie frei sind die Kinder in der Auswahl ihrer Tätigkeiten? 2. In welcher Form werden Entscheidungen getroffen? Wie sind Kinder daran beteiligt? Wieviel entscheiden Erwachsene an Stelle von Kindern? Wieviel Verantwortung für sich selbst überlassen wir Kindern? 3. Wie flexibel sind Regelungen und Regeln? Verändern sie sich überhaupt, oft oder beständig? Wie individuell zugeschnitten sind unsere Regelungen und Verantwortlichkeiten? 4. Differenzieren wir Erwachsenen untereinander selbst unsere Verantwortungsbereiche in ausreichendem Maße?

Fragen aus der Perspektive der Kinder stellen

Wichtig ist es - vor allem in Bezug auf die Altersstufen - herauszubekommen, was Kinder im Alltag ohne Erwachsenen tun können, wie selbständig sie sein dürfen. Auch hierzu lassen sich Klein und Vogt zufolge Fragen stellen, anhand derer eine Einschätzung des Selbständigkeitspotentials möglich ist: "Können die Kinder jederzeit den Gruppenraum verlassen? Können sie jederzeit in einer Werkstatt arbeiten? Können sie alle Räume der Kindertageseinrichtung auch ohne Erwachsene benutzen? Können sie z.B. ihre Freunde einladen, ihr eigenes Spielzeug mitbringen, die Hausaufgaben machen, wenn ihnen danach ist, Flohmärkte veranstalten, eine Feuerstelle benutzen, das Telefon, die Waschmaschine, die Küche oder den Staubsauger? Wie frei zugänglich sind Sportgeräte? Wie groß ist der frei erreichbare Raum auch außerhalb der Kindertagesstätte? Hat jedes Kind (vor allem Schulkinder) einen Platz, den es alleine gestalten kann, der für alle anderen tabu ist? Gibt es öffentliche Beschwerden, Suchanzeigen, Mitteilungen, Anschläge oder ähnliches von Kindern? " Zusammenfassend befragt die Freinet-Pädagogik in ihrer Praxis aus der Perspektive der Kinder die Erziehungseinrichtungen danach: "Wie frei und selbständig kann ich mich als Kind hier bewegen?". Im Dialog mit den Kindern versuchen Freinet-Pädagogen herauszufinden, wie die konkrete Form eines für die Selbständigkeit der Kinder förderlichen Lebensraumes aussehen kann.

Das könnte Sie auch interessieren

Die Entdeckungskiste: Ideen & Impulse für die Kita-Praxis

  • Impulse für die Umsetzung der frühkindlichen Bildungspläne für Kinder im Alter von 1 bis 10 Jahren
  • Leicht umsetzbare und aktuelle Praxisideen
  • Pädagogisch fundiert und erprobt – von Fachkräften aus der Praxis für die Praxis
  • Kostenlose digitale Zusatzmaterialien wie Kopiervorlagen, Bild- und Fotokarten, Checklisten u.v.m.
Jetzt entdecken