Vorurteile sind uns oft nicht bewusst. Unbefangen bezeichnen wir den kleinen Jonas als "Raufbold", Kopftuchträgerinnen als "unterdrückte Frauen" und die Nachbarin als "Quasselstrippe". Das Konzept "Vorurteilsbewusste Erziehung" will dieser Art von Stigmatisierung, Herabsetzung und Ausgrenzung bereits im Kindergarten entgegenwirken. In der Tagesstätte treffen Kinder mit den unterschiedlichsten Voraussetzungen aufeinander. Verschiedene Geschlechter, soziale Situationen, Familienkonstellationen, dazu zehn und mehr nationale Hintergründe machen die Arbeit nicht eben leicht. Gerade der Kindergarten spielt aber als erste Bildungseinrichtung eine wichtige Rolle für die Entwicklung von Toleranz und friedlichem Miteinander.
Akzeptanz und Wertschätzung von Anfang an
Interkulturelle Erziehung soll deshalb schon die Kleinen dazu anhalten, sich gegenseitig mit Akzeptanz und Wertschätzung zu begegnen. Was dieser Absicht aber oft entgegensteht, sind die (unbewussten) Vorurteile aller Beteiligten. Das gilt für die Kinder: "Mara kann nicht Ritter spielen. Sie ist ja bloß ein Mädchen." Das gilt für die Erzieherinnen: "Türkische Jungs sind kleine Paschas." Und das gilt für die Eltern: "Arabische Männer sind arrogant." Dabei speist sich die Beurteilung keineswegs aus Bosheit. Vielmehr sind wir darauf angewiesen, uns über das, was uns begegnet, eine Meinung zu bilden. Denn nur so finden wir uns in der Welt zurecht. Das gilt besonders für Kinder. Von Anfang an beobachten sie aufmerksam ihre Umgebung und ziehen ihre Schlüsse. Mit feinen Sinnen registrieren sie auch die Bewertungen der Erwachsenen. Ob etwas als gut oder schlecht, normal oder unnormal gilt, beeinflusst ihre Meinung über Dinge, andere Menschen und sich selbst. Je weniger Einzelheiten sie kennen, desto grober und unzutreffender fällt ihr Urteil aus. Das gilt für uns Erwachsenen genauso. Je weniger wir über unsere eigenen (Vor)urteile wissen, desto weniger sind wir in der Lage, sie zu korrigieren.
Vielfalt der Kulturen sichtbar machen
Hier setzt das Konzept der "Vorurteilsbewussten Erziehung" an. Entwickelt wurde es im Institut für den Situativen Ansatz der Freien Universität Berlin. Unter dem Namen "Kinderwelten" soll es nun von der Theorie in die Praxis übertragen werden. Berliner Kindertagesstätten erprobten als Erste den neuen pädagogischen Entwurf. Das begann mit einer Schulung der Erzieherinnen. Angeleitet von Mitarbeiterinnen des Projektes "Kinderwelten" fragten sie sich, inwieweit eigene Vorurteile unbewusst ihre erzieherische Arbeit beeinflussen. Verhalten sie sich Mädchen und Jungen gegenüber unterschiedlich? Welche Bilder und Erwartungen verknüpfen sie mit dem jeweiligen nationalen Hintergrund der Kinder? Inwieweit schränken diese Erwartungen das Selbstbild der betroffenen Kinder ein? Halten sie einer genauen Überprüfung überhaupt stand? Gleichfalls reflektierten die Teams mögliche Vorurteile gegenüber den Eltern, der Eltern untereinander sowie der Kinder untereinander.
Diese Arbeit führte zu folgenden Ergebnissen:
- Die Erzieherinnen intensivieren den Kontakt zu den Eltern. In gemeinsamen Gesprächskreisen suchen sie eine Verständigung über Erziehungsziele. Sie orientieren ihren Blick weg von einer gedachten "Nationalkultur" auf die gelebte Familienkultur der Beteiligten.
- Die Erzieherinnen laden die Eltern ein, sich intensiv am Kindergartenalltag zu beteiligen, etwa aus Büchern in ihrer Muttersprache vorzulesen, ein Frühstück nach ihrem Familienbrauch auszurichten oder ein Fest zu gestalten. Auf diese Weise machen sie den Respekt für die Vielfalt der in der Einrichtung vorhandenen Kulturen sichtbar.
- In Zusammenarbeit mit den Eltern werden Räume und Materialien verändert. In die Puppenecke halten Küchengegenstände aus verschiedenen Esskulturen Einzug, in der Rollenspielecke stehen Kleidungsstücke aus verschiedenen Regionen der Welt zur Verfügung. Unter die Möbel mischen sich vielleicht Leihgaben aus einem türkischen, einem kroatischen oder einem pakistanischen Haushalt. So wird auch in den Räumen die Vielfalt der Menschen und Kulturen sichtbar.
- Die Erzieherinnen unterstützen die Kinder dabei, Unterschiede wie Gemeinsamkeiten wahrzunehmen und Vorurteile zu hinterfragen: Wir schauen uns im Spiegel an und sprechen über das, was wir sehen. Wir erzählen, wie wir einen freien Tag zu Hause verbringen. Wir malen uns selbst.
Mit dem kritischen Blick auf das Vorurteil, so erwarten die Initiatorinnen des Projekts "Kinderwelten", wird interkulturelles Lernen zu einem wirkungsvollen Mittel gegen Intoleranz und Fremdenfeindlichkeit.
Weitere Informationen:
Institut für den Situationsansatz in der INA gGmbH an der Freien Universität Berlin
Arbeitsbereich Fachstelle Kinderwelten im ISTA
Urbanstr. 44
10967 Berlin
Tel.: 030 / 69539990
E-Mail: kooerdination@kinderwelten.net
Im Internet unter www.kinderwelten.net
"Kinderwelten" hält Empfehlungen zu "vorurteilsbewussten" Materialien und Kinderbüchern bereit.