Der vierjährige Lukas spielt mit dem Hüpfball. Maximilian, fünf und sehr kräftig, kommt dazu und versucht den Ball an sich zu reißen. "Lass mich spielen!", wehrt sich Lukas. Max haut Lukas mitten ins Gesicht, stößt ihn vom Ball und setzt sich triumphierend darauf. Lukas rennt weinend aus dem Raum, seine Nase blutet...
Mit ähnlichen Situationen sind Erzieherinnen häufig konfrontiert. Eine Studie der Universität Braunschweig ergab, dass bis zu 20 Prozent der Jungen und Mädchen zwischen drei und sechs Jahren sich im Kindergarten gelegentlich aggressiv verhalten: Sie streiten, sind aufbrausend, zerstören Spielsachen und Einrichtungsgegenstände, schlagen und bedrohen andere Kinder. Viele Eltern fragen sich deshalb: Welche Raufereien sind noch normal und wann sollten Erwachsene eingreifen?
Konflikte gehören dazu
Die Psychologin Francoise Alsaker von der Universität Bern erklärt: "Im Kindergarten treffen ganz unterschiedliche Temperamente aufeinander. Da ist es nur natürlich, wenn es zu Reibereien und Konflikten kommt." Als "Opfer" sind nach Alsaker eher Kinder prädestiniert, die etwas ängstlicher sind und (noch) nicht gelernt haben, sich durchzusetzen. Typische "Täter" hingegen sind aggressiver als andere Kinder und verfügen gewöhnlich über eine hohe Sozialkompetenz, so die Psychologin.
Was können Eltern tun, wenn sie von Gewalt im Kindergarten erfahren?
Die Experten sind sich einig: Auf keinen Fall sollten sich Eltern sofort einmischen, sondern sich erst einmal informieren. Rita Strauß, langjährige Leiterin einer Kindertagesstätte, rät: "Wenn Eltern von Gewalt hören, sollten sie umgehend Kontakt mit der Erzieherin aufnehmen. Diese wird ihnen ihre objektive Einschätzung des Vorfalls schildern. Da lässt sich vieles gemeinsam klären." Zu Hause sollten Eltern mit den Kindern offen über einen Gewalt-Vorfall reden. Dem Nachwuchs wirklich zuzuhören, ist dabei von zentraler Bedeutung, egal, ob das eigene Kind nun "Täter" oder "Opfer" ist. Im Gespräch können Eltern ihr Kind dabei unterstützen, die möglichen Ursachen eines Streits zu erkennen, Ideen für eine Lösung des Konflikts zu entwickeln und alternative Formen der Auseinandersetzung zu finden.
Wie mit Aggression umgehen?
Erzieherinnen müssen in ihrer täglichen Arbeit immer wieder mit körperlichen Auseinandersetzungen von Kindern umgehen, haben also Erfahrung mit diesem Thema. Wenn Eltern Zeugen von Raufereien werden, können Sie sich am Verhalten der "Profis" orientieren. Die Hortleiterin Rita Strauß reagiert im Konfliktfall zum Beispiel so: "Wenn es lauter wird in der Gruppe, beobachte ich sie erst einmal. Erst wenn ein Kind sich nicht mehr zu helfen weiß, greife ich ein. Meistens schaffen die Kinder es jedoch allein, den Konflikt beizulegen." Wichtig ist es, mit den beteiligten Kindern über deren Gefühle zu sprechen und ihnen immer wieder andere Wege als das Schlagen und Zurückschlagen aufzuzeigen, so die Erzieherin. "Man kann fragen: Was könntest du denn tun, wenn du nicht zurückhauen darfst? Du könntest zum Beispiel dem anderen erklären, dass er dir weh getan hat und dass er dich auch mit Worten verletzt hat." Auf keinen Fall sollten Eltern, besonders Väter, ihre Kinder dazu ermutigen, sich nichts gefallen zu lassen oder einfach zurückzuhauen. Viel wichtiger ist es, den Kindern Wege aufzuzeigen, auf denen sie Konflikte anders lösen können als mit der Faust.
Wie sollen Eltern auf dramatische Schilderungen ihres Kindes reagieren?
Wenn Kinder von Prügeleien im Kindergarten berichten, sollten Eltern möglichst nicht voreilig handeln: "Man sollte zwar ruhig und interessiert mit seinem Kind sprechen, aber nie sofort bei der anderen Mutter anrufen", betont Gudrun Babendererde, Leiterin des Evangelischen Kindergartens in Ottobrunn. "Ich habe Fälle erlebt, da waren die Kinder längst wieder versöhnt, als die Mütter in der Woche drauf einen Gesprächstermin hatten", sagt die Erzieherin.
Wie lernen Kinder andere Formen der Auseinandersetzung?
Um Aggression unter Kindern besser zu begegnen, wurde in Deutschland das Projekt "Faustlos" ins Leben gerufen, das sowohl in Schulen als auch in Kindergärten durchgeführt wird. "Faustlos" dient der Prävention von gewalttätigem Verhalten und wurde von Professor Manfred Cierpka, dem Leiter der Abteilung für Psychosomatische Kooperationsforschung Familientherapie am Universitätsklinikum Heidelberg, nach amerikanischem Vorbild in Deutschland eingeführt. Im Rahmen des Programms können Vier- bis Sechsjährige gemeinsam mit ihren Erzieherinnen trainieren, Konflikte anders als per Fußtritt und Faustschlag zu lösen. Spielerisch lernen die Kinder, sich in andere hineinzuversetzen, mit Gefühlen wie Wut und Angst umzugehen und sich anderen gegenüber fair und kooperativ zu verhalten.
Eltern als Vorbilder
Aber auch die Familie spielt bei der Entwicklung von sozialer Kompetenz eine bedeutende Rolle. Im Zusammenleben mit ihren Eltern und Geschwistern können Kinder täglich üben, die eigenen Aggressionen im Zaum zu halten und einen Konflikt gewaltfrei zu beenden. Ein gutes Beispiel geben Eltern, wenn sie ihrem Kind zeigen, wie man die eigenen Interessen vertritt, ohne die der anderen zu ignorieren, oder unangenehme Gefühle ausdrückt, ohne den anderen zu verletzen. Wenn sie ihrem Kind außerdem vorleben, dass man sich auch mal streiten und hinterher wieder versöhnen oder entschuldigen kann, ist damit viel gewonnen. Zuletzt ist wichtig, dass Gewalt als Erziehungsmittel in der Familie tabu ist. Denn Eltern, die ihr Kind schlagen, verletzen es nicht nur körperlich uns seelisch, sondern erhöhen auch die Wahrscheinlichkeit, dass das Kind in Konfliktsituationen selbst zur Gewalt greift.