Seit drei Tagen geht Lisa in den Kindergarten. Sehr gern sogar, wie sie fröhlich versichert, wenn sie mittags abgeholt wird. Doch morgens sieht die Welt ganz anders aus: Da weint Lisa immer. Wenn ihre Mutter sich von ihr verabschiedet, überkommt es die Dreijährige. Ihre Unterlippe beginnt zu zittern, Tränen schießen ihr in die Augen, die kleinen Hände greifen nach der Jacke ihrer Mutter. "Bleib' da", fleht sie.
Die Angst, von der Bezugsperson verlassen zu werden, ist angeboren und tritt bereits im Säuglingsalter auf. Wie ein roter Faden zieht sie sich durch den Lebenslauf eines jeden Menschen. Besonders stark zum Ausdruck kommt diese Trennungsangst vor dem ersten Geburtstag: Im so genannten Fremdelalter reagieren Kinder auf Personen, die sie nicht täglich um sich haben, oft mit vehementer Ablehnung. Die Botschaft lautet: "Mami, geh' nicht weg - noch nicht mal einen Meter!" Auch Einschlafschwierigkeiten haben häufig mit der Angst vor Trennung und Verlassensein zu tun. "Wer weiß, ob Mama und Papa noch da sind, wenn ich wieder aufwache?" Diese Befürchtung macht viele Kleinkinder schlaflos.
Rückfall beim Kiga-Start
Mit zunehmender Selbstständigkeit und einem Schatz positiver Erfahrungen nimmt die Trennungsangst zwar ab, verschwindet jedoch nie ganz. Häufig flammt sie beim Eintritt in den Kindergarten noch einmal ordentlich auf. Das liegt zum einen daran, dass die meisten Kinder durch den Hort die erste "echte" Trennung von all ihren Bezugspersonen erfahren. Ein Vormittag bei der Oma ist eben doch etwas ganz anderes als ein Vormittag in der Tagesstätte. Zusätzlich prasseln viele unbekannte Eindrücke auf das frischgebackene Kiga-Kind herein: Die neue Umgebung, unbekannte Gerüche, lärmende Kinder und fremde ErzieherInnen.
Es ist also völlig normal, dass Kinder wie Lisa in der ersten Kindergartenzeit ihre Eltern nicht loslassen wollen. Trennungen können sehr schmerzhaft sein, aber man kann und muss auch lernen, sie zu bewältigen. Das geht meist nicht von heute auf morgen - Kinder brauchen Zeit und Unterstützung für diesen schwierigen Prozess.
Für die Eltern gilt es dabei, die Gratwanderung zwischen konsequentem Verhalten einerseits und liebevoller Zuwendung andererseits zu meistern. Sich von einem klammernden Kind mit Gewalt zu trennen ist sicherlich genauso falsch, wie sofort nachzugeben und es wieder mit nach Hause zu nehmen. Die meisten ErzieherInnen haben viel Fingerspitzengefühl für dieses Problem entwickelt und bekommen es in der Regel schnell in den Griff. Sie arbeiten zum Beispiel mit verschiedenen Übergangsritualen, um den Kleinen die Eingewöhnungsphase zu erleichtern.
Vertrauen geht über alles
Natürlich können und sollten auch Eltern ihrem Kind dabei helfen, die Trennungen auszuhalten. Ein wichtiger Tipp dazu lautet: Seien Sie absolut verlässlich! Die Gedanken Ihres Kindes kreisen beim Abschied nämlich um Fragen wie diese: "Was ist, wenn Mama mich vergisst?" Je schneller Ihr Kind merkt, dass seine Sorgen unbegründet sind, desto schneller wird ihm auch der Abschied leichter fallen. Aus diesem Grund sollten Sie Ihr Kind nicht "auf den letzten Drücker" abholen. Seien Sie gerade in der ersten Zeit überpünktlich. Ein Kind, das miterlebt, wie sich die Reihen am Mittag langsam lichten, ohne dass die eigene Mutter in Sicht kommt, fühlt sich buchstäblich mutterseelenallein, verlassen und verraten. Dieses Kind wird beim nächsten Abschied noch mehr weinen als zuvor.
Was das Bringen betrifft, ist es optimal, wenn Sie Ihr Kind anfangs ohne Zeitdruck abliefern. So gehen Sie sicher, dass der ohnehin schmerzhafte Abschied nicht noch zusätzlich durch Hektik belastet wird. Falls es erforderlich sein sollte, können Sie auch noch ein Weilchen bleiben, denn die meisten Kinder brauchen einen "Verbündeten", wenn Sie beginnen, die ungewohnte Umgebung kennen zu lernen. Widerstehen Sie unbedingt der Versuchung, sich heimlich davonzustehlen. Dadurch verunsichern Sie Ihr Kind - es rechnet schließlich jederzeit damit, verlassen zu werden - und Sie erreichen das Gegenteil des Gewollten.
Auch wenn es schwer fällt: Besser ist es, die Traurigkeit zuzulassen. Und auch Tränen gehören manchmal dazu. Zwingen Sie Ihr Kind dann nicht, sich zusammenzureißen, denn Weinen ist nicht die schlechteste Methode, Trauer zu verarbeiten. Vor allem seien Sie zuversichtlich: Die Trennungsangst Ihres Kindes wird abnehmen. Es wird lernen, dass es sich auf Sie verlassen kann, wenn Sie sagen: "In drei Stunden hol' ich dich ab".