Die Anfänge der Reggio-Pädagogik gehen zurück auf die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. In einem Dorf mit Namen Villa Cella bei der Stadt Reggio Emilia entsteht April 1945 der erste "Volkskindergarten", geleitet von den Männern und Frauen des Dorfes. Dieses gemeinschaftliche Prinzip hält sich bis heute bei den kommunalen Kindertagesstätten in Reggio durch - Einbeziehung aller für die Erziehung der Kinder relevanten Personen in die konzeptionelle Diskussion, Planung und Realisierung der alltäglichen Arbeit und Projekte.
Die Reggio-Pädagogik hat ihren Namen von der norditalienischen Stadt Reggio-Emilia. Diese Stadt ist der Träger von 13 Krippen und 20 Tageseinrichtungen und schafft den finanziellen, unternehmerischen, konzeptionellen und auch kulturellen Rahmen für die Praxis der Reggio-Pädagogik. Der Begriff "Reggio-Pädagogik" weist auf zwei wichtige Punkte hin:
- die besondere Beziehung des pädagogischen Konzepts mit der soziokulturellen Spezifik des Ortes Reggio-Emilia sowie mit der besonderen historischen und politischen Situation, die diesen Ort während der Entstehungszeit der Reggio-Pädagogik prägte.
- die Kollektivität der Urheberschaft des Ansatzes im Gegensatz zu anderen Bindestrich-Pädagogiken wie Montessori- oder Freinet-Pädagogik, auch wenn einzelne Persönlichkeiten, insbesondere Loris Malaguzzi (gestorben 1994), besonderen Einfluss auf das Gesamtkonzept oder einzelnen seiner Elemente haben." (siehe Quellen, Tassilo Knauf).
Experimentelle Pädagogik
Die Reggio-Pädagogik präsentiert sich nicht als fertiges Modell. Vielmehr handelt es sich um eine Pädagogik des Werdens, um eine experimentelle Pädagogik. Das Reggio-Konzept wird im Wechselspiel von praktischer Erfahrung und theoretischer Reflexion immer weiter entwickelt. Die ErzieherInnen sollen nicht nur Theorien angemessen auf die Praxis anwenden, sondern auf der Basis der praktischen Erfahrungen selbst Theorien entwickeln. Die Reggio-Pädagogik ist also das Ergebnis eines Wechselspiels zwischen Praxis und Theorie. Damit ist die wesentliche Forderung Loris Malaguzzis1 erfüllt, die pädagogische Theorie dort zu entwickeln, wo pädagogisch gearbeitet wird.
Kooperations- statt Anleitungs-Pädagogik
Ein Schlüsselwort der Reggio-Pädagogik ist "insieme", was man mit zusammen, gemeinsam übersetzen kann. Durch die Erziehungsarbeit in kooperativer Form sollen gemeinschaftliche Strukturen in der Gesellschaft aufgebaut bzw. gestärkt werden. Die ErzieherInnen sollen sich dabei als Begleiter und Dialogpartner der Kinder sehen. Erziehung ist ein von Erwachsenen und Kindern gestalteter und verantworteter Interaktionsprozess. Diese Sozialität des Miteinanders steht in einem Spannungsverhältnis mit der Individualität des Kindes, auf die die Reggio-Pädagogik besonderen Wert legt. Das Kind wird als "Konstrukteur seiner Entwicklung und seines Wissens" betrachtet. Eine der Hauptaufgaben in der Erziehung ist somit die Herstellung der Balance zwischen der zu fördernden Unverwechselbarkeit des Individuums und seiner sozialen Vernetzung.
Lern- und Entwicklungskonzept der Reggio-Pädagogik
Thesenartig lässt sich Tassilo Knauf zufolge das theoretische Lern- und Entwicklungs-Konzept der Reggio-Pädagogik folgendermaßen zusammenfassen: "
- Lernen und Kompetenzentwicklung entspringen dem menschlichen Bedürfnis nach Verstehen der Lebenswirklichkeit und nach wirkungsvollem Handeln in realen Lebensbezügen.
- Lernen heißt aktive Auseinandersetzung mit der gegenständlichen und sozialen Umwelt.
- Lernen ist entdeckendes und forschendes Lernen, mit dem Beziehungen zwischen Objekten, Personen, Strukturen und Prozessen gedeutet werden.
- Sinnliche Informationen sind die Grundlagen von kognitiven Deutungen und Emotionen.
- Aufnehmen, Verarbeiten und Speichern von Informationen werden zunächst unmittelbar handelnd ("enaktiv"), dann auch über sinnliche, vor allem visuelle Medien ("ikonisch") und schließlich sprachlich ("symbolisch") geleistet. Die zentralen Elemente der Reggio-Pädagogik sind auf die Förderung dieser drei Repräsentationsebenen bezogen.
- Analog der konstruktivistischen Weltdeutung und Erkenntnistheorie konstruiert Lernen nie ein fertiges, sondern nur ein vorläufiges Wissen, das immer wieder neuen Deutungen bedarf. Neue Erfahrungen, aber auch der Austausch mit anderen, fordern Neusortierung und Neuinterpretationen unserer Wissensbestände heraus.
- Das Verhalten von Kindern und Erwachsenen sowie die sprachlichen und gegenständlichen Äußerungen von Menschen fordern zu selektivem Imitations- oder Modell-Lernen heraus.
- Die Entwicklung von sozialer und personaler Identität hat viel mit Selbsterkenntnis und der Erkenntnis der eigenen Unverwechselbarkeit, aber auch mit der Ähnlichkeit mit anderen zu tun." (siehe Quellen)
Projekte und Projektarbeit
Projekte und Projektarbeit gelten als das Herzstück der Reggio-Pädagogik. Dabei lassen sich fünf charakteristische Punkte für die reggianische Projektkonzeption herausstellen:
- das optimistische Bild vom Kind, das sich aktiv mit sich, seiner gegenständlichen und sozialen Umwelt auseinandersetzt;
- ein Lernbegriff, der Lernen als entdeckendes und forschendes Lernen versteht;
- die Rolle der Erzieherin, der Erwachsenen als Begleiter und Dialogpartner;
- die Gewinnung der Projektinhalte aus dem Alltag und ihre Eingebundenheit in den Alltag der Tageseinrichtungen und ihres Umfeldes;
- die sinnlich-gegenständliche Dokumentation des Projektprozesses, der Ergebnisse und der Projektauswertung.
Diese fünf Projekt-Punkte bestimmen im wesentlichen die Praxis der Reggio-Pädagogik.
Projektplanung und Projektinhalte
Bei der Projektplanung müssen folgende Fragen geklärt werden:
Woher bekommen die ErzieherInnen die Impulse für Projekte?
Was kann zum Projektinhalt werden?
Wer entscheidet über mögliche Projekte?
Wie werden die Kinder an der Planung und Durchführung von Projekten beteiligt?
Ausgangspunkt für Projekte sind oft einfach zufällige Beobachtungen von kindlichen Aktivitäten. Eine weitere Möglichkeit ist, dass die Kinder konkrete Fragen stellen oder in Versammlungen eigene Projektvorschläge einbringen. Häufig ergeben sich Projekte aber auch aus der Analyse der vielfältigen Aufzeichnungen kindlicher Aktivitäten: Tagebücher, die über jedes Kind geführt werden, Beobachtungsprotokolle von kindlichen Spielaktivitäten, Abschriften von Mitschnitten kindlicher Gespräche, Fotoserie von Spielsituationen, Konfliktverläufen oder ähnliches, Videoaufzeichnungen. All diese Materialien könne im Team gesichtet und unter der Fragestellung diskutiert werden, welche Bedürfnisse, Interessen, Freuden und Nöte die Kinder haben und bewegt. Das Ergebnis der Diskussionen kann ein Projektthema sein. Gegenstand eines Projektes können aber auch Themen sein, die die ErzieherInnen einbringen oder von außen, z B. durch die Eltern, in den Kindergarten einfließen.
Intensive Projektplanung ist unbedingt notwendig
Neben der Diskussion des Projektinhaltes ist auch eine intensive Projektplanung sehr wichtig. Diese sorgt dafür, dass sich alle ErzieherInnen, die am Projekt mitarbeiten, sachkundig machen. Mit der intensiven Planung soll allerdings nicht ein strikter Verlauf des Projekts festgelegt und garantiert werden. Vielmehr soll die Thematik und die darin liegende Möglichkeiten erörtert werden, um auf unterschiedliche Projekt-Verläufe reagieren zu können, ohne das Ziel des Projekts aus den Augen zu verlieren. Die Planung ist bereits Teil des Erziehungs-Prozesses, der aus kontinuierlicher Beobachtung, Handlung und Reflexion sich zusammensetzt und keinesfalls eine Verplanung der Kinder meint.
Dokumentationen fördern den Dialog
Neben den Projekten sind auch die Dokumentationen in der Reggio-Pädagogik wichtig. Man unterscheidet zwei Formen: 1. Dokumentationsmappe und 2. Dokumentation in Form von sogennannten „sprechenden Wänden". In der Dokumentationsmappe wird die Lern- und Entwicklungsggeschichte der Kinder notiert. Sie soll den ErzieherInnen, aber auch den Eltern die Möglichkeit eröffnen, sich über die Aktivitäten und Entwicklung der Kinder zu informieren. Die Dokumentation in Form von sprechenden Wänden sind die Wände des Kindergartens, die mit Fotos, gemalten Bildern und Texten behängt sind. Sie zeigen die Arbeit in der Einrichtung auf. Bei dieser Art der Dokumentation können die verschiedenen Phasen der Projekte dargestellt werden, von der Planung über die Durchführung bis zu den Ergebnissen und der kritischen Auswertung.
Der Raum als "dritter Erzieher"
Wolfgang Ullrich und Franz-J. Brockschnieder zufolge soll mit den Dokumentationen folgendes erreicht werden: Die Eltern sollen über die Entwicklung der Kinder informiert werden und somit auch eine Einbeziehung der Eltern, der Kinder und Mitarbeiter in laufende Arbeitsprozesse erreicht werden. Einblicke in Arbeitsweisen, Denkbewegungen, Vorstellungen und Gefühle von Kindern werden gegeben und eine Transparenz der Projektarbeit für alle Beteiligten, insbesondere auch für die Kinder selbst hergestellt. Die Kinder können sich dadurch mit dem eigenen Produkt identifizieren und somit wird die Ich-Stärke und das Selbst-Bewusstsein gefördert. Die Dokumentationen sind die Grundlage für interne und externe Diskussions- und Austauschprozesse über die Qualität der Arbeit und vermitteln Kindern und Mitarbeitern ein Gefühl von Geborgenheit und Stolz, indem sie den Arbeitsprozess der Selbstgestaltung des eigenen Lebensraumes dokumentieren. (siehe Quellen, S.56/57). Wie der letzte Punkt deutlich macht, ist die Raumgestaltung ein weiteres wichtiges Element der Reggio-Pädagogik. Der Raum wird als „dritter Erzieher" betrachtet. Damit ist gemeint, dass auch und gerade die Gestaltung der räumlichen Umgebung einen wesentlichen Einfluss auf die Persönlichkeitsentwicklung des Kindes hat. Drch die Gestaltung des räumlichen Umfeldes erhält das Kind Anregungen zum Agieren, Forschen und Experimentieren.