Frau Becker-Stoll, was bedeutet Bindung eigentlich?
Bindung ist ein lang anhaltendes, starkes emotionales Band an eine meist erfahrenere und stärkere Person, die nicht austauschbar ist.
Was zeichnet eine sichere Bindung aus?
Die Bindungsperson wird als sichere Basis genutzt, von der aus das Kind die Welt erkunden kann. Wenn es in eine Situation kommt, die es überfordert, kehrt das Kind zur Bindungsperson zurück. Diese tröstet es und hilft ihm, seine Gefühle zu ordnen.
Was kann der Bindung schaden?
In erster Linie Trennungen oder gar Beziehungsabbrüche. Aber auch alles, das die Bindungsperson belastet oder beeinträchtigt, sodass sie sich dem Kind nicht mehr feinfühlig zuwenden kann. Etwa eine starke emotionale Belastung der Eltern – hier insbesondere Konflikte untereinander oder gar Depressionen oder Alkohol- und Drogenmissbrauch.
Warum ist es so wichtig, Kindern von Anfang an gute Bindungserfahrungen zu ermöglichen?
Weil dadurch die gesamte Entwicklung von sozialen, emotionalen, aber auch kognitiven Kompetenzen positiv beeinflusst wird – ganz besonders der Umgang mit Stress. Kinder, die sichere Bindungen zu ihren Eltern aufbauen konnten, erleben dieselbe soziale Umgebung (etwa in Kita oder Schule) als wohlwollender und positiver im Vergleich zu Kindern, die diese Erfahrung nicht machen konnten.
Manche Eltern fürchten, dass sie ihr Kind zu sehr verwöhnen, etwa wenn sie bei jedem Weinen gleich tröstend eingreifen. Was raten Sie?
Babys und Kleinkinder, die weinen, brauchen liebevollen Trost und Körperkontakt. Eltern, die sofort bei jedem Muckser reagieren, haben Babys, die signifikant weniger weinen. Kinder, die viel weinen gelassen werden, weinen immer mehr. Die Überflutung des jungen Gehirns mit Stresshormonen kann schädigend wirken.
Inwieweit beeinflusst die frühe Eltern-Kind-Beziehung die gesamte Erziehungszeit? Fallen Konflikte je nach Qualität der Bindung anders aus?
In meiner Forschung mit Eltern-Kind-Paaren konnte ich Folgendes zeigen: Kinder, die als Kleinkinder ihre Eltern als sichere Basis nutzen konnten, zeigten im Streitgespräch 15 Jahre später eine bessere Balance zwischen Verbundenheit und Autonomie. Wenn keine größeren Belastungen in der Familie auftreten, bleiben vertrauensvolle Beziehungen trotz großer Veränderungen beständig.
Unterliegt das Bindungs- und Erziehungsverhalten von Eltern einer Entwicklung?
Feinfühliges Verhalten gegenüber einem Säugling sieht zwar anders aus als gegenüber einem Kleinkind, Schulkind, Teenager. Aber es heißt immer, die Signale des anderen wahrzunehmen, richtig zu interpretieren und angemessen darauf zu reagieren. Beim Baby bedeutet das, auf jedes Weinen prompt zu reagieren, beim Teenager, an seinem Verhalten zu erkennen, was los ist und was er/sie braucht. Teenager brauchen genauso sehr liebevolle Umarmungen und Zuwendung – auch wenn sie es nicht immer so zeigen können.
Sie sind selbst Mutter von zwei Kindern. Worauf legen Sie bei der Erziehung besonderen Wert?
Ich versuche ganz bewusst, meinen beiden Kindern immer wieder zu zeigen und zu sagen, wie sehr ich mich freue, dass ich so wunderbare Kinder habe, wie lieb ich sie habe und wie gerne ich für sie da bin. Sie sollen wissen, dass sie mit allem zu mir und meinem Mann kommen können. Auch wenn es mir schwerfällt, versuche ich, sie nicht zu kritisieren, sondern bei Schwierigkeiten gemeinsame Lösungen zu finden. Das heißt nicht, dass ich nicht manchmal genervt und ungeduldig bin! Wenn ich dann aber merke, dass ich sie damit verletzt hab, entschuldige ich mich und versuche es wieder gutzumachen.
Prof. Dr. Fabienne Becker-Stoll ist Direktorin des Staatsinstituts für Frühpädagogik (IFP) in München.