Die Szene ist nur zu gut bekannt: Laura wälzt sich brüllend an der Supermarktkasse, weil sie keinen Schoko-Riegel bekommt. Ihre Mutter ist vollbepackt mit Taschen und Tüten. Im Laden ist es heiß und nach und nach bildet sich eine ansehnliche Traube Schaulustiger um das kleine Energiebündel. Und bezahlt hat Lauras Mutter auch noch nicht. Fluchtgedanken schießen ihr durch den Kopf.
Trotz wird gerne als kindliches Problem behandelt. Aber wenn wir uns diese Szene genau anschauen, müssen wir uns fragen, wer hier ein Problem hat. Die kleine Laura, die es vielleicht sogar ganz befriedigend findet, allen angestauten Frust einmal herauszulassen und im Mittelpunkt des Interesses zu stehen? Oder nicht doch ihre tatsächlich bedauernswerte Mutter und die umstehenden "Gaffer", die durch kluge Kommentare den Druck auf Lauras Mutter noch erhöhen.
Viele kindliche Verhaltensweisen, so erläutert Remo H. Largo in seinem Buch Kinderjahre (Piper 2009), sind eigentlich ganz normal, wenn man bedenkt, wie unterschiedlich sich Kinder entwickeln. Die Bandbreite dessen, was "normal" ist - also nicht gestört oder verzögert -, ist groß. Aber, und das gilt für das Thema Trotz wie für kein anderes, das kindliche Verhalten stimmt häufig nicht mit dem überein, was die Umwelt erwartet oder ertragen kann. Diese fehlende Übereinstimmung zwischen dem kindlichen Verhalten und seiner Umwelt nennt Largo "Misfit". Bei Erziehung sollte es aber darum gehen, sich an den Eigenheiten eines Kindes zu orientieren und eine Übereinstimmung zwischen den Bedürfnissen von Kind und Umwelt zu erzielen.
Trotz aus gutem Grund
Zurück zum Wutigel Laura: Ihr Trotzanfall ist also ein durchaus normales und entwicklungsgerechtes kindliches Verhalten. Es gibt einige einleuchtende Gründe für Trotz: Kinder mit zwei oder drei Jahren beginnen langsam, den Radius ihrer Entdeckungen und Erfahrungen auszudehnen. Krabbelnd und laufend machen sie sich zunehmend selbstständig, werden mit neuen Situationen konfrontiert. Das macht stolz, löst aber auch Ängste aus. So ist diese Entwicklungsphase geprägt durch den Konflikt, die Welt ganz allein erobern und aus Angst vor der eigenen Courage am liebsten ganz nah bei Mama oder Papa bleiben zu wollen. Dieses Dilemma erzeugt Wut und Trotz. Noch kreist das Kind zu sehr um sich selbst, um zu erkennen, dass es das Leben noch nicht ohne fremde Hilfe bewältigen kann. Wird es aber von seiner Umwelt daran gehindert, den heißen Tee selbst einzugießen oder die Sandalen im Schnee zu tragen, dann ist das Drama vorprogrammiert. Zwei- bis Dreijährige können den Frust, der aus solchen Zurückweisungen entsteht, nicht wegstecken, ihre Frustrationstoleranz ist noch nicht hoch genug. Also hilft nur ein Wutanfall.
Nun klingen die Gründe für den Trotz unserer Kleinen doch ganz plausibel. Und in Maßen wäre die Wut auch sicherlich für uns Erwachsene erträglich. Aber bei wuchtigen und lang anhaltenden Trotzanfällen geraten auch die ruhigsten Eltern an ihre Grenzen.
Stehen Sie zu Ihrer eigenen Wut
Viele Eltern berichten, dass sie ihre eigenen Grenzen nie näher gespürt haben - weder im Beruf noch sonst - als in der Auseinandersetzung mit dem eigenen trotzenden Kind. Sie fühlen sich hilflos, wütend, in der Öffentlichkeit bloßgestellt. Sie fragen sich, ob sie in der Erziehung ihres Kindes versagt haben.
Wenn auch Sie solche Gefühle kennen, dann beruhigen Sie sich beim nächsten Trotzanfall Ihres Lieblings zuallererst mit dem Gedanken, dass solch ein Anfall die normalste Sache der Welt ist und - ganz wichtig - dass Ihr Kind Sie mit seinem Verhalten weder bloßstellen noch ärgern will. Es kann in diesem Moment nicht anders, ist überwältigt von den eigenen Emotionen. Gestehen Sie aber auch sich selbst zu, über Ihr Kind wütend zu sein. Sie sind verständlicherweise sauer und genervt. Damit müssen Sie auch nicht unbedingt hinterm Berg halten und Ihrem Kind vorspielen, Sie hätten alles im Griff.
Bleiben Sie gelassen
Aber es ist besser, die Wut woanders loszuwerden, als sie gegen Ihr Kind zu richten. Das ist im Moment eines Trotzanfalls sowieso nicht ansprechbar. Gehen Sie lieber kurz aus dem Zimmer, atmen Sie tief durch, denken Sie an etwas ganz anderes, Schönes. Manchmal hilft es auch, bis 10 zu zählen, ein Lied zu singen, sich auf den Boden zu legen und kurz zu entspannen oder die eigene Wut rauszulassen, mit den Fäusten auf den Tisch zu trommeln oder ins Kissen zu boxen. Ihr Kind wird erstaunt beobachten, dass Sie sich nicht provozieren lassen und Ihre eigenen, vielleicht unkonventionellen Wege suchen, mit der Situation umzugehen. Gut ist es in jedem Fall, gelassen und sachlich zu bleiben und dem Trotz nicht zu viel Gewicht beizumessen. Das Kind abzulenken oder es auszuschimpfen macht häufig wenig Sinn. Wenn Sie können, nehmen Sie Ihr Kind in den Arm, lassen Sie es ausweinen. Mit Argumenten und Diskussionen erreichen Sie Ihr Kind jetzt nicht, ein paar ruhige, knappe Worte genügen.
Passiert der Ausbruch in der Öffentlichkeit, klemmen Sie sich Ihr Trotzkind notfalls unter den Arm und verlassen schnellstmöglich den Ort des Geschehens. Schlaue Kommentare können Sie jetzt am wenigsten gebrauchen. Die Familientherapeutin Gisela Preuschoff rät, positiv zu bleiben und sich zu sagen: "Mein Kind ist eben neugierig und intelligent" - und nicht: "Dieser kleine Egoist will uns hier vor Allen ärgern und blamieren." Versuchen Sie es einmal.
Dem Trotz vorbeugen
Glücklicherweise sind Kinder keine Computer, bei denen sich Wutanfälle umprogrammieren lassen. Dennoch können Eltern dem Trotz vorbeugen. Grundsätzlich ist ein Klima der Liebe, Ruhe und Bestätigung im Elternhaus enorm wichtig, um Kindern ein gutes Selbstwertgefühl und eine gewisse Grundsicherheit zu vermitteln. Das ist die Basis dafür, dass Kinder zunehmend gelassen mit frustrierenden oder überfordernden Situationen umgehen können. Darüber hinaus lassen sich einige kritische Standard-Situationen im Vorfeld entschärfen. Margret Nußbaum, Autorin verschiedener Erziehungsratgeber, hat sie zusammengestellt und gibt unter anderem folgende hilfreiche Tipps:
Entscheidungen abnehmen: Überfordern Sie Ihr Kind nicht unnötig, indem Sie ihm die Wahl zwischen zu vielen Alternativen lassen, sei es die Wahl des Mittagessens oder der Kleidung am Morgen. Sicherlich können Sie auf Wünsche eingehen, aber nur innerhalb eines bestimmten Rahmens.
Selbstständigkeit unterstützen: Es ist toll, wenn Ihr Kind sich schon allein anziehen will. Wenn es irgendwie geht, sollten Sie es in diesem Impuls unterstützen (notfalls etwas früher aufstehen). Wenn die Zeit mal fehlt, erklären Sie es verständlich.
(Termin-)Druck aus dem Alltag nehmen: Besonders für Kinder, die sich leicht überfordert fühlen, ist es wichtig, nicht zu viel Termin-Stress in den Tag zu bringen. Ein gemütlicher Vorlese-Nachmittag auf der Couch tut mitunter besser als der Ballett- oder Musikunterricht.
Unterbrechungen ankündigen: Sagen Sie rechtzeitig Bescheid, wenn Ihr Kind sein Spiel demnächst unterbrechen muss.
Warten erleichtern: Kein Kind kann warten. Sollte es mal länger dauern, können Sie Ihrem Kind helfen, wenn Sie die zu wartende Zeit veranschaulichen: über einen Abreißkalender, eine Sanduhr oder einen Wecker.
Großeinkäufe mit Kind meiden: Und wenn es doch nicht anders geht, nehmen Sie Spielzeug fürs Kind mit. Treffen Sie schon vorher Absprachen für den klassischen Fall der Fälle - Ihr Kind will Süßigkeiten. Stellen Sie eine Belohnung (Geschichte vorlesen o.ä.) in Aussicht.
Freiräume statt Grenzen
Immer wieder werden Sie zu der Frage gelangen: Soll ich das durchgehen lassen oder hier eine Grenze setzen und so einen Wutanfall provozieren? Soll ich darauf bestehen, dass das Kinderzimmer heute abend noch aufgeräumt wird oder darf der Zoo noch stehen bleiben? Pädagoginnen wie Cornelia Nitsch und Gisela Preuschoff sind sich darin einig, dass Sie in diesen Situationen zunächst immer prüfen sollten, ob eine Grenze, eine Einschränkung, wirklich notwendig ist. Sicher hat Ihr Kind seine eigenen Vorstellungen von Ordnung. Kommen Sie ihm darin auch etwas entgegen, lassen Sie ihm gewisse Freiräume. Aber natürlich geht es nicht ganz ohne Regeln, sonst geraten Sie irgendwann an Ihre Grenzen. Alle Regeln (nicht zu viele!) sollten übersichtlich, klar und verständlich formuliert sein. Besonders erfolgversprechend ist es, wenn Sie die Regeln gemeinsam mit Ihrem Kind aufstellen. Vielleicht schreiben Sie die Regel auf ein Blatt Papier, auf dem das Kind "unterschreiben" kann und das in einer "Regelkiste" deponiert wird. Für unser Beispiel könnte das bedeuten, dass Sie sich gemeinsam auf einen Tag in der Woche einigen, an dem das Kinderzimmer aufgeräumt wird.
Strafen bringen in der Regel wenig und dem Kind erst recht keinen Erkenntnisgewinn. Ihr Kind braucht Konsequenz und Klarheit im Vorfeld und, vor allem, Ihre Liebe und Solidarität. Denn eigentlich kämpft es bei einem Trotzanfall mit sich selbst und nicht mit Ihnen.