"Iiih, Määädchen!" Paul und die anderen Jungen aus der zweiten Klasse, die in der großen Pause über den Schulhof toben, bekommen deutlich erkennbar Ohnmachtsanfälle. Denn eine kleine Gruppe Mitschülerinnen streift ihr Gesichtsfeld. Andreas kämpft mit Brechreiz, Torben steht der blanke Abscheu in den Augen, Marvin blickt hyperüberheblich, und Paul bremst seinen Lauf, als hätten Gespenster seinen Weg gekreuzt. Die drei Klassenkameradinnen reagieren cool, wenden sich kurz um und dann wieder einander zu, tippen sich an die Stirn: typisch Jungs.
Nein, so richtig ernst nehmen können die beiden Geschlechter einander nicht, jedenfalls wenn sie in der Gruppe auftreten. Das Desinteresse am anderen Geschlecht wird gepflegt und demonstriert, wo es nur geht, laut und vernehmlich, so dass es die andern auch deutlich mitbekommen. (Nachmittags allerdings, wenn es niemand sieht, trifft sich Paul mit Sabrina, denn die wohnt zwei Häuser weiter und ist ziemlich nett. Aber sagen würde Paul das nie. Sein Image wäre komplett hin.)
Der Lippenstift fürs Töchterchen, der Sohn geht in den Boxverein
Uns aufgeklärten, modern erziehenden Eltern ist es nicht geheuer, wenn unser Sohn, unsere Tochter sich so konsequent nach biologischem Waschzettel entwickelt. Zwar wissen wir mittlerweile, dass die Chromosomen doch ein Wörtchen mitreden bei der Ausprägung der Persönlichkeit - aber so sichtbar? Das ist dann doch ein bisschen peinlich, denn das sieht nach reaktionärer, antiquierter Erziehung aus. Und die kann uns doch nun wirklich niemand vorwerfen. Wir wollen unsere Söhne auch mal weinen und unsere Töchter in die Wipfel der höchsten Bäume klettern sehen. Denn das ist erziehungspolitische Correctness. Aber dann steht Laura heulend auf dem Sprungbrett im Schwimmbad, weil sie sich nicht zu springen traut, und Max gibt den Macho. Und wir beginnen, über den Unterschied zwischen Theorie und Praxis, Trend und Tradition nachzudenken. Und fast so heimlich wie Paul sich mit Sabrina trifft, so heimlich rutschen wir in Erziehungsformen, die wir noch vor ein paar Jahren empört zurückgewiesen hätten: Wir kaufen dem Töchterchen den heißbegehrten Lippenstift und melden den Sohn im Boxclub an und fragen uns doch immer dabei, ob wir nicht Eigenschaften bei unseren Kindern zementieren, die sie in ihrer Rolle festlegen, ob wir sie nicht der Möglichkeiten berauben, um die sie bereichert werden könnten.
kizz Tipps
- Geben Sie Ihrem Kind alle Möglichkeiten, die es braucht, um sich auszuprobieren. Die zarten, zurückhaltenden, musischen Anteile in der Persönlichkeit eines Jungen sollten ebenso beachtet und gefördert werden wie seine wilden, aktiven Seiten. Bei einem Mädchen gilt das entsprechend: Es darf vorlaut und ungestüm sein, aber auch "mädchenhaft". Ziel der Erziehung sollte die Förderung des heranwachsenden Menschen sein - und nicht die Ausformung eines bestimmten geschlechtstypischen Verhaltens.
- Kinder prägen ihre Identität vor allem durch Beobachten und Nachahmen aus. Deshalb ist es wichtig, dass sie auch männliche Vorbilder haben, das gilt für Jungen wie für Mädchen. Im Kindergarten Erzieherinnen, in der Grundschule Lehrerinnen und in der Familie vielleicht ein Vater, den das Kind so gut wie nie zu Gesicht bekommt: eine solche Situation können Sie ausgleichen, indem Sie vielfältige Kontakte zu netten männlichen Verwandten oder Freunden fördern.
- Suchen Sie Spielzeug nicht unter dem Blickwinkel "Jungenspielzeug" oder "Mädchenspielzeug" aus, sondern einzig unter dem Aspekt: Macht es meinem Kind Freude? Entspricht es seiner Persönlichkeit? Geben Sie ihm auch durch Spielzeug die Möglichkeit, sich auszuprobieren und herauszufinden, was ihm liegt.
Wichtiger als das Geschlecht: die Persönlichkeit
"Die Kinder erziehen ihre Eltern ziemlich gut", sagt der nette Kinderarzt im Krankenhaus, als die Eltern ihrer Tochter nach einer Operation die heiß ersehnte, aber von Mutter und Vater sehr kritisch bewertete Barbiepuppe aufs Kissen legen. Ein weiser Satz. Denn wie in keinem anderen Bereich der Erziehung nehmen sich Jungen und Mädchen bei der Ausprägung ihrer Geschlechterrolle das, was sie brauchen. Ganz deutlich zeigen sie, wo ihre Interessen liegen. Sandra etwa spielt stundenlang versunken mit ihren Puppen, klebt ihnen Kleidchen aus Tempotüchern und bemuttert ihre kleine Familie. Kevin dagegen bekommt leuchtende Augen, wenn ein Feuerwehrauto um die Ecke saust, er mag Lego-Raumschiffe und kickt jeden Stein vor sich her. Aber da gibt es auch Viktoria: Sie kennt keine Angst, springt von der höchsten Mauer und hat sich zum Geburtstag einen batteriebetriebenen Roboter gewünscht. Und es gibt auch Sven, der gern Blumen sammelt und trocknet und in ein Album klebt. Eltern, die solches beobachten, müssen nicht erschrecken: Das Kind weist ihnen den erzieherischen Weg. Bei Linkshändern weiß man inzwischen, wie verhängnisvoll es sein kann, sie umzupolen. Genau so verhängnisvoll wäre es, ein Kind in seinen Vorlieben umpolen zu wollen: Ist ein Junge ängstlich, wird aus ihm kein Held werden, ist er ein Draufgänger, können wir kein Sensibelchen aus ihm machen. Kann ein Mädchen mit Puppen nichts anfangen, wird eine Puppenstube kein geeignetes Geschenk sein, ist es ein aktiver, dynamischer Charakter, können wir es nicht mit einem Stickrahmen beglücken. Unser Kind ist ein Einzelstück, es hat eine Menge auf die Welt mitgebracht, auf das wir reagieren, aber das wir nicht verbiegen sollten. Mehr als ihm vielfältige Erfahrungsmöglichkeiten anzubieten können wir nicht tun.
Und wenn er nun schwul wird?
André liebt Röckchen. Er klaubt sich aus der Verkleidungskiste im Kindergarten am liebsten die Stücke mit viel Tüll und Trara, stakst auf hochhackigen Schuhen herum, dreht und wendet sich vor dem Spiegel und kümmert sich nicht um die Reaktion der anderen. Die Erzieherinnen haben ihn eine Weile beobachtet und dann der Mutter leise diese Vorliebe ihre Sohnes mitgeteilt. Die ist entsetzt. Er wird doch nicht ...
Wie viel Elend ist über junge Menschen gekommen, wenn ihnen mit Misstrauen und Ablehnung begegnet wurde. Über Heranwachsende, die bei den leisesten Anzeichen eines nicht geschlechtskonformen Verhaltens geächtet und verspottet wurden. Die sich verstecken mussten in ihren Vorlieben, niemanden an ihrer Seite wussten, der sie verstand. Die schon in ihrer frühen Kindheit argwöhnisch beobachtet wurden, ob sie sich auch so entwickelten, wie es den gesellschaftlichen Normen entsprach. Vielleicht sind gerade jene bezaubernden Wesen, denen als Kind die Gabe verliehen war, mit all ihren Möglichkeiten zu experimentieren, später in die Rolle des Outlaws gedrängt worden, weil sie schon als Kind den Stempel "nicht normal" auf der Stirn trugen. Kinder wollen ausprobieren, sich selbst und die Reaktion ihrer Umwelt. Und je mehr diese Umwelt - das sind bei kleinen Kindern in erster Linie die Eltern - für die wechselnden Phasen eines Kindes Verständnis zeigt, um so eher wird aus dem sich entwickelnden Menschen später ein Mensch, der sich in seinem Lebens-Kostüm wohl fühlen und zufrieden leben kann.
Die Erziehung muss sich nicht am Geschlecht des Kindes ausrichten. Mädchen dürfen genauso mit klassischem "Jungenspielzeug" spielen wie Jungen mit "Mädchenspielzeug". Beide sollten sich auch "typisch" benehmen können, mit Spielzeug und Verhalten, das sie in die Gruppe der Freunde integriert. Nur: Sie dürfen nicht festgelegt werden, ihre Persönlichkeit soll nicht eindimensional gefördert, nicht eingeengt werden wie ein Fluss, den man in ein Betonbett zwängte. Kinder sollen sich frei und fröhlich ausprobieren dürfen. Wenn einem Jungen nach Weinen zumute ist, dann darf er weinen. Wenn ein Mädchen sich gern mit Konstruktionsspielzeug beschäftigt, ist das in Ordnung. Und wenn es irgendwann einen Lippenstift haben möchte und in Mutters Pumps steigt, dann ist das auch o.k.