Ein Gespräch im Spielkreis: Der knapp zweijährige Max fährt gern seine Puppe im Spielzeug-Buggy durchs Dorf spazieren. Der Vater, von Beruf Landwirt, sieht dies nicht so gern: Er befürchtet, dass der Junge dadurch "verweibliche". Die Mutter meint, dass sie "schon dafür Sorge tragen würde, dass Max mit Puppen spielen könne". Dann wechselt sie schnell das Thema und berichtet, dass Max immer schon großes Interesse an Fahrzeugen gehabt habe. Seine ältere Schwester habe dagegen die teuren Fahrzeuge, die für sie angeschafft worden waren, kaum genutzt.
Diese Alltagsgeschichte vermittelt drei Botschaften über geschlechtsbezogene Entwicklung: Erstens gibt es typische Geschlechtsunterschiede, zweitens liegt das nicht am Erziehungsverhalten der Eltern, sondern ist irgendwie "angelegt", und drittens ist Max ein "richtiger Junge", auch wenn er mal eine Puppe durchs Dorf schiebt.
Stimmt das - werden Jungen mit einem Matchboxauto in der Tasche geboren, interessieren sie sich "von allein" für typisch männliche Dinge und Themen, egal was die Eltern wollen? Oder hat der Vater recht, der seinen Sohn vor zu viel "Weiblichkeit" meint schützen zu müssen? Oder aber ist beides Unsinn, sind Kinder von Natur aus gleich und sollten wir geschlechtstypischen Unterschieden möglichst entgegenwirken?
Im Kindergartenalter beginnt bei Jungen die Suche nach Männlichkeit
Die Frage, in welchem Ausmaß Verhalten durch die Anlage oder durch die Umwelt bestimmt wird, ist nach wie vor sehr umstritten. Es gibt zahllose widersprüchliche Forschungsergebnisse. Von der Wissenschaft ist keine eindeutige Antwort auf diese Fragen zu erwarten! Seit einigen Jahren sind biologische Erklärungen für geschlechtstypisches Verhalten sehr populär. Dabei wird die Bedeutung von Genen, Hormonen und Gehirnstrukturen nicht selten übertrieben. Unterschätzt wird dagegen die Wirkung der offensichtlichen körperlichen Unterschiede auf Kinder. Natürlich ist es eine große Sache, einen Penis zu haben - so wie Papa! Auf der anderen Seite können sich kleine Jungen durchaus noch vorstellen, später mal eine "Mama" zu werden und ein Kind zu bekommen. Da kann es sehr irritierend sein, wenn sie herausfinden, dass das nicht geht.
Jungen müssen dann mit der Tatsache fertig werden, dass die Mutter - wie auch die Erzieherinnen und viele andere Menschen, mit denen sie es im Alltag zu tun haben - einem anderen Geschlecht angehören als sie selbst. Möglicherweise fragen sie sich dann, ob Eigenschaften, die sie mit ihrer Mutter gemeinsam hatten und bis dahin ganz selbstverständlich fanden, jetzt vielleicht nicht mehr zu ihnen "gehören". In diesem Alter beginnt daher ihre "Suche nach Männlichkeit".
Rollenspiele spiegeln die Realität wider
Wir können dies gut an einer typischen Situation im Kindergarten beobachten: dem Familienrollenspiel. Welche Rolle übernimmt der Junge? Nun, zunächst ist naheliegend, dass er den Vater spielt. Das sieht dann so aus, dass die Mutter nach einem kurzen Frühstück den Vater zur Arbeit schickt. Während für sie dann das Tagwerk beginnt, langweilt sich der Junge und kommt nach wenigen Minuten zurück: "Ich bin wieder da-a!" Daraufhin belehrt ihn die Mutter, dass es ja noch vormittags sei und er noch länger arbeiten müsse. Die Möglichkeit, dass Papa zu Hause bleibt und sich um die Kinder kümmert, während Mama arbeiten geht, ist den meisten Kindern aus ihrem eigenen Familienleben nicht bekannt.
Was bleibt dem Jungen? Vielleicht entscheidet er sich dafür, die Rolle zu wechseln: Er wird Hund. Da darf er dabei bleiben und laut herumbellen - das macht vielen Jungs Spaß. Andererseits wird er möglicherweise noch mehr herumkommandiert als die Kinder. Vor allem ältere Jungen entscheiden sich daher möglicherweise anders: Sie tun sich mit anderen Jungs zusammen, gehen vielleicht raus: "Los, Männer, an die Arbeit!" - und ab geht's in die Sandkiste.
Positive Vorbilder können den späteren "Macho" verhindern
Auf ihrer Suche nach Männlichkeit werden Jungen an verschiedenen Orten fündig: in erster Linie beim Vater; bei Großvätern, Onkeln und Freunden der Eltern; beim gemeinsamen Spiel mit anderen Jungen; in den stereotypen Bildern, die die Medien bereitstellen. Dem Versuch, Vorbilder für "Männlichkeit" zu finden, steht die Abgrenzung von "Weiblichkeit" gegenüber. Wenn Jungen auf ihrem weiteren Lebensweg zu wenige positive Anregungen dafür erhalten, was Junge- oder Mannsein positiv bedeuten kann, werden sie ihre "Männlichkeit" möglicherweise durch besonders starke Abgrenzung von Mädchen und Frauen hervorheben. Vielleicht bleiben sie aber auch nah an der Mutter und geben sich Mühe, ihr alles recht zu machen - um den Preis, von anderen als "Muttersöhnchen" lächerlich gemacht zu werden.
"Den" Jungen gibt es nicht: Jungen sind verschieden. Die folgenden Gedanken können Anstöße geben, einmal einen anderen Blick auf das Verhalten von Jungen zu werfen.
- Jungen wollen so akzeptiert werden, wie sie sind - ob sie nun typische Jungs sind, die mit Stöcken in der Gegend herumschießen, oder ob sie "wie ein Mädchen sind" und ihre Puppe durch die Gegend fahren.
- Niemandem bekommt es gut, wenn Jungen andere Kinder ständig stören und ärgern oder Erwachsenen auf der Nase herumtanzen. Problematische Verhaltensweisen sollten nicht wegerklärt werden: Bei Problemen und Fehlverhalten müssen klare Regeln ausgehandelt und ggf. von den Erwachsenen Grenzen gesetzt werden.
- Auf der anderen Seite ist es wichtig, Angst und Unsicherheit bei Jungen wahrzunehmen, auch und gerade wenn sie hinter übermäßiger Aktivität, Lautstärke oder auch aggressivem Verhalten versteckt sind.
- Jungen müssen typisch und untypisch sein dürfen. Zu wünschen ist, dass sie möglichst viele Verhaltensmöglichkeiten ausprobieren und weiterentwickeln können, denn je flexibler sie sind, um so besser sind ihre Voraussetzungen dafür, mit der Welt von morgen zurechtzukommen.