Lieber, kleiner Loïc. Sein Vater und ich haben ihm einen bretonischen Namen ausgesucht, der wild und gefährlich klingt. So heißen Abenteurer, Seefahrer und ganze Kerle, dachten wir uns, und so soll er leben. Gischt spritzt auf felsigen Strand, der Himmel strahlt, und wenn die Leute sich küssen, treibt der Wind ihnen Tränen übers Gesicht...
Und dann kommt er vier Wochen zu früh und wiegt nicht mal ganz fünf Pfund, der Abenteurer. Eine sogenannte Spät-Frühgeburt (und ich dachte immer, es gäbe nur das eine oder das andere, so wie beim Aufstehen), macht er seinem Namen alle Ehre: seit der schaurigen Märznacht seiner Geburt vor zwei Jahren bestimmt Loïc, in welchen Bahnen sein Leben verlaufen soll, und zwar auf erstaunlich eigensinnige Weise.
Dabei geht es nicht um gelegentliches Trotzen oder die allgemeine "Ich-will-es-nicht-weil-du-es-willst"-Negativhaltung, die er ab und zu an den Tag legt. Für diese Phase hatte uns ja schon sein großer Bruder trainiert und uns geholfen, ein paar unumgängliche Regeln des friedlichen Zusammenseins aufzustellen. Ein harmonisches Familienleben klappt schließlich nur, wenn Zahnbürsten und Unterhosen stets als persönliches Eigentum anerkannt und Nahrungsmittel nicht als Knetmasse zweckentfremdet werden (und umgekehrt). Kinder brauchen Grenzen und gute Manieren, die nicht nur für die Eltern angenehm, sondern auch später im Umgang mit Arbeitgebern und Schwiegermüttern von unschätzbarem Wert sind.
Für Loïc gelten also die gleichen disziplinarischen Eckpfeiler wie für seinen Bruder. Dazwischen ist aber noch genug Platz für gelegentliche Ringkämpfe. In der einen Ecke Loïc, der sich am liebsten ausschließlich von Schafskäse und Oliven ernähren würde. Der sein Bad am liebsten stehend nimmt, auch wenn er dabei friert. Der die Puppe absolut nicht in den Puppenbuggy lässt und sie splitternackt auszieht, sobald ich ihr heimlich einen Pulli überstreife... In der anderen Ecke die wohlmeinende Mutter, die so ein Verhalten erst einmal zu ändern versucht, da es ihr seltsam bis schädlich vorkommt. Unzählige Male habe ich schon versucht, Loïc's Handschuhe zu Hause zu lassen, da die Temperaturen eher T-Shirt als Skianzug verlangten. Bisher ohne Erfolg. Gern würde ich es auch sehen, dass er mal mit Buntstiften malt und nicht nur mit Kugelschreiber. Oder dass er in der Badewanne nicht (stehend) in den Wasserhahn beißt. Sobald ich einzugreifen versuche, wehrt er sich mit erstaunlicher Hartnäckigkeit und unter Einsatz all seiner noch so beschränkten Mittel. Ich frage mich, sind das alles nur Mätzchen, ein Aufschrei nach mehr Aufmerksamkeit - oder eben der Hinweis, dass Loïc's Kopf anders funktioniert als meiner und ich das gefälligst akzeptieren sollte? Dass er sich nicht in eine Form pressen lässt, die ich für ihn ausgesucht habe, und mag sie noch so schön und sinnvoll sein?
Jedenfalls habe ich nach langen Kämpfen, Überlistungs-und Überzeugungs-versuchen beschlossen, Loïc manchmal, und in Maßen, seinen Kopf durchsetzen zu lassen. Seitdem kommen wir viel besser miteinander aus. Das Kräftemessen beschränkt sich auf einige wenige Grundregeln, und wenn er die beachtet und sich und andere durch sein Verhalten nicht in Gefahr bringt, darf er seine Individualität ausleben. Und, ich gebe es zu, manchmal sogar mit Handschuhen am Tisch sitzen...
Bei der Geburt von Loïc's großem Bruder dachte ich ja noch etwas naiv, dass so ein Kind Knetmasse in meinen Händen sei und es nur auf meine Fingerfertigkeit ankäme, wie das Endergebnis aussehen würde. Der stets gut gelaunte, lächelnde Junge bestätigte mich sogar meist in dieser Illusion. Mit Loïc habe ich aber ein Exemplar bekommen, das sich selbst Form geben will. Um mit ihm glücklich zu sein, muss ich das Idealbild, das ich mir von meinem Sohn gemacht habe, zurückstecken. Nicht der allmächtige Regisseur sein, der das Geschehen bis ins kleinste Detail regelt, sondern der Assistent, der die Requisiten reicht und aufpasst, dass niemand über ein Kabel stolpert. Dabei trotzdem behutsam seine Talente fördert und sein volles Potential zum Blühen bringt.
Je mehr ich über Loïc's Eigensinn nachdenke, um so klarer wird mir, dass er mir eine wertvolle Hilfestellung leistet: wenn ich meinem Kind auch nicht alles durchgehen lasse, so zwingt mich sein Dickkopf, ihm besser zuzuhören. Mit ihm (bildlich und wörtlich) auf Augenhöhe zu gehen und herauszufinden, was ihn glücklich macht. Auch wenn es oft einfacher und zeitsparender wäre, für ihn zu entscheiden. Wahrscheinlich braucht er diese kleinen Siege, um sein Selbstbewusstsein zu stärken. Und schließlich will ich doch genau das mit meiner Erziehung erreichen: dass Loïc sich für sein Glück verantwortlich fühlt und alles daran setzt, um seine Träume zu verwirklichen. Dass er damit schon so früh loslegt - vielleicht ist das von einer Spät-Frühgeburt nicht anders zu erwarten?!?
Lieber, kleiner Loïc. Er liebt Handschuhe, Kugelschreiber, Wasserhähne und Oliven. Er küsst die Tiere in seinen Bilderbüchern, auch das Stachelschwein, und hat vor Luftballons Angst. Er spielt unheimlich gern im Matsch. Er ist 85 cm groß, aber ein ganzer Mensch. Es hat zwar eine Weile gedauert, aber auch seine Mama hat das jetzt kapiert.