Auf einem Bein hüpfen, die Treppe schnell hochsteigen, einen Ball auffangen - immer mehr Jungen und Mädchen haben damit ihre Schwierigkeiten. Die motorischen Fähigkeiten deutscher Kinder lassen deutlich nach. Beim "Motoriktest für vier- bis sechsjährige Kinder" (MOT 4-6) schneidet der Nachwuchs heute zehn Prozent schlechter ab als vor 15 Jahren. Renate Zimmer, Sportpädagogik-Professorin an der Universität Osnabrück, hat den Test 1987 entwickelt. Sie warnt vor körperlichen, geistigen, emotionalen und sozialen Entwicklungseinbußen durch fehlende Bewegungserfahrungen. kizz hat mir ihr gesprochen.
Was beunruhigt Sie an den nachlassenden motorischen Fähigkeiten deutscher Kinder am meisten?
Mich erschreckt, dass Kinder heute mit alltäglichen Bewegungsabläufen Schwierigkeiten haben oder sie nicht mehr selbstständig bewältigen. Während einer Testvorführung sollten sie zum Beispiel ein Tuch mit ihren Zehen aufgreifen. Viele wollten ihre Schuhe nicht ausziehen. Sie mochten keine nackten Füße und fühlten sich barfuß verunsichert. Unseren Kindern fehlen heute elementarste Sinneswahrnehmungen. Die Öffentlichkeit hat leider kein Ohr dafür. Auch "PISA" schaut nur auf kognitive Leistungen.
Was ist so gefährlich daran, wenn Kinder sich heute einfach nicht mehr so viel bewegen wollen?
Sie bekommen ein falsches Bild von der Welt, ein Bild, das nicht mehr durch ihr eigenes Tun geprägt wird, sondern durch die Aufbereitung in den Medien. Wenn die Welt hauptsächlich per Fernsehen und Computer zu ihnen kommt, ist das eine sehr einseitige Begegnung. Kinder lernen, indem sie sich an Objekten oder mit anderen Menschen erproben. Indem sie selbst Effekte hervorrufen, Ursache und Wirkung studieren, bekommen sie ein Gefühl für ihr eigenes Können. Wenn ihnen das von der Umwelt verwehrt wird, nach dem Motto "nicht anfassen", erlangen sie kein Bewusstsein für eigene Fähigkeiten. Es mangelt ihnen dann auch an Vertrauen in das eigene Können. In die Umwelt eingreifen zu können, heißt schließlich auch, für eigene Handlungen verantwortlich zu sein. Zu diesem Lernprozess gehören auch Fehler. Heute dürfen Kinder sie kaum noch machen. Sie wachsen zu erfolgsorientiert auf. Ihnen wird später das Durchhaltevermögen fehlen.
Einerseits haben immer mehr Kinder motorische Probleme, andererseits beklagen Pädagogen zunehmend Fälle von Hyperaktivität und dem Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom. Gibt es hier einen Zusammenhang?
Dahinter liegen ähnliche Ursachen. Kinder müssen heute zahlreiche Reize und Eindrücke auf körperferner Ebene verarbeiten. Sie sehen und hören viel, ohne dass sie die erhaltenen Informationen ausreichend in die Tat umsetzen und verarbeiten können.
Gibt es bestimmte Risikogruppen, die besonders von motorischen Problemen betroffen sind?
Das familiäre Umfeld und die unmittelbare Umgebung sind entscheidend. In einer kleinen, hellhörigen Mietwohnung werden die Spiel- und Bewegungsbedürfnisse sehr eingeschränkt. Wenn es auch draußen wenig Spielmöglichkeiten hat, keinen Kindergarten besucht und auch die Eltern kein gutes Vorbild sind, kann das motorische Probleme befördern. Nicht zu vergessen ist die genervte Umwelt: Wo Lachen und Laufen als Störung angesehen werden und die möglichst lange und ruhige Beschäftigung eines Kindes angestrebt wird, da ist das Erziehungsideal der Risikofaktor.
Lassen sich Bewegungs- und Lernversäumnisse aus den ersten Lebensjahren später nachholen?
Aus meiner Sicht ist es nie zu spät, allerdings sind die Grenzen später enger gesteckt. Ein Neugeborenes hat mehr als einhundert Milliarden Nervenzellen, die erst dann funktionsfähig sind, wenn sie miteinander verknüpft werden konnten. Dies geschieht in den ersten Lebensjahren durch Sinneswahrnehmungen. Hier hat mangelnde Bewegung also einen realen Verlust zur Folge. Dennoch lässt sich auch noch im Grundschulalter viel tun. Selbst mit Jugendlichen ist es nicht zu spät. Allerdings erreicht man ein Kleinkind, bei dem Bewegung ein elementares Bedürfnis ist, noch leichter.
Werden in Kindergärten motorische Probleme überhaupt richtig erkannt?
Viele Erzieherinnen und Erzieher sind interessiert und aktiv. Den Kindergärten stürmen im Zuge der Bildungsdiskussion zur Zeit ja alle die Türen ein. Um dort wichtige Entwicklungsgrundlagen zu legen, müssen die Erzieherinnen und Erzieher entsprechend qualifiziert werden. Kindergärten wurden in der Vergangenheit zu sehr unter dem Aspekt "Aufbewahrung" gesehen. Wichtiger als die Diskussion über den kundenfreundlichen Kindergarten ist das pädagogische Konzept. Selbsttätigkeit halte ich für richtig, allerdings müssen sich die Erzieherinnen und Erzieher der Tatsache bewusst sein, dass Kinder Anregung, Impulse, Interesse und Mitspieler brauchen.
Wie kann in Kindergärten Bewegung gefördert werden?
Bereits durch die Gestaltung der Räume innen und außen, aber auch durch tägliche Bewegungsangebote. Im Kindergarten kann das geübt werden, was Kinder heute oft nicht mehr können: Zum Beispiel ein Spiel mit Regeln spielen und den Sinn verstehen, balancieren oder das Gleichgewicht in vielen Spielsituationen herausfordern.
Und wenn die Kinder frustriert sind, weil sie es nicht können?
Dann muss die Aufgabe auf die Voraussetzungen des Kindes abgestimmt werden. Es gibt keine Stufe, die zu tief ist. Solange ein Kind nicht überfordert ist, hat es normalerweise an Bewegungsspielen Interesse. Wenn ein Kind nicht mitmachen will, gilt es die Gründe zu finden und diese ernst zu nehmen.
Was können Eltern tun?
Es geht nicht darum, mit den Kindern bestimmte motorische Fertigkeiten zu üben. Aber die Bewegung im Alltag zu fördern, ist sehr wichtig. Das fängt schon damit an, wie eine Wohnung und ein Kinderzimmer eingerichtet sind. Haushaltsarbeiten lassen sich als gemeinsames Spiel erledigen. Anstatt seinem Kind zu sagen, "warte, bis die Wäsche aufgehängt ist", kann man mit Wäscheklammern spielerisch die Feinmotorik trainieren. Auch die Fantasie der Erwachsenen braucht wieder Anregungen. Die Umwelt ist voller Bewegungsgelegenheiten - Mauern, Treppen, Bäume - das Spiel damit wird heute allzu oft als Gefahrenherd oder Zeitverlust gesehen.
Von Dr. Renate Zimmer sind im Verlag Herder mehrere Bücher zur frühkindlichen Bewegungserziehung und Psychomotorik erschienen. Sie engagiert sich in der Fortbildung für ErzieherInnen und LehrerInnen und arbeitet selbst regelmäßig mit Kindern im Vorschulalter.
Das Interview führte Kirsten Wörnle.