Was steckt dahinter, wenn ein Junge ständig angibt, als Bestimmer auftritt oder derbe Sprüche klopft?
Das kann ganz unterschiedliche Gründe haben. Vielleicht hat er gelernt, dass er so seine Interessen am besten durchsetzen kann. Vielleicht denkt er, dass er so auftreten muss, um von seinen Freunden als „richtiger Junge“ anerkannt zu werden. Vielleicht will er seine Mutter oder Erzieherin schockieren und genießt es, eine Wirkung bei ihnen zu erzielen. Vielleicht – und gar nicht so selten – versteckt er hinter seinem provozierenden Verhalten aber auch Unsicherheit und Angst. Um das herauszufinden, müssen wir genau hinschauen und auch die Widersprüche im Verhalten von Jungen wahrnehmen.
Welche Rolle spielen hierbei Vorbilder, reale wie mediale?
Wenn Jungen sehen, dass Männer immer stark sind, alles im Griff haben und mehr bestimmen dürfen als Frauen, dann ist es nicht verwunderlich, wenn sie das auf ihre Weise nachahmen. Oft sind die Erwartungen an Jungen ganz widersprüchlich: Das „Mackerverhalten“ geht den Erwachsenen auf die Nerven. Ängstlich und weinerlich sollen Jungen aber auch nicht sein. Dabei sind kleine Jungen alles andere als stark und mächtig. Oft müssen sie ihre Bedürfnisse den Notwendigkeiten der Erwachsenen unterordnen. Mit ihrem „starken“ Auftreten möchten sie Unsicherheit und Ohnmacht überspielen. Medienhelden können dabei als Vorlage dienen.
Das Verhalten kann ganz schön nervig sein. Wie kann man darauf reagieren?
Wenn die Erwachsenen immer nur lieb und verständnisvoll sind, fordert das Provokationen noch mehr heraus. Rigides Verbieten hingegen macht ohnmächtig, hilflos oder zornig. Eltern und Erzieherinnen sollten daher den Stier bei den Hörnern packen und Streiten lernen – keine leichte Aufgabe! Sie sollten aber auch die anderen Seiten von Jungen wahrnehmen und sie trösten oder beruhigen, wenn hinter dem nervigen Verhalten Enttäuschungen oder Versagensängste stehen.
Wie geht es den anderen Kindern damit?
Motzen, stören und Schimpfworte brüllen ist ansteckend und macht erst in der Gruppe so richtig Spaß. Blöde Angeber gehen den anderen Kindern allerdings gehörig auf die Nerven. Bei den Gleichaltrigen sind sie unbeliebt, wenn sie sich nicht in die Gruppe einfügen können. Kleinere Kinder lassen sich oft einschüchtern – sind aber auch beeindruckt davon, was die Großen sich trauen, und lernen von ihnen.
Gibt es in puncto Coolsein Unterschiede zwischen den Geschlechtern?
Na klar. Große Jungs müssen „cool“ und „männlich“ sein, um bei ihren Freunden anerkannt zu werden, zumindest meinen viele das. Mädchen sind heute auch „cool“ und selbstbewusst, nur sieht das manchmal anders aus – und geht auch in rosa Leggins. Dabei ist es eigentlich umgekehrt: Wirklich „cool“ ist ein Junge, der selbstbewusst im rosa T-Shirt herumläuft, egal was die anderen sagen. Aber das begreifen viele Jungen erst später.
Brauchen Kinder – insbesondere Jungen – mehr männliche Bezugspersonen?
Für Jungen wie Mädchen ist es gut, wenn sie im Alltag Frauen und Männer um sich haben. Männer sind dabei nicht besser oder wichtiger für Kinder als Frauen. Wichtig ist, dass Kinder sehen, dass es ganz unterschiedliche Männer wie auch unterschiedliche Frauen gibt und dass Frauen und Männer gut miteinander auskommen können.
Eine geschlechterbewusste Pädagogik, worauf kommt es dabei an?
Darauf, Möglichkeiten und Spielräume von Jungen und Mädchen zu erweitern. Jungen sind Jungen, Mädchen sind Mädchen, und manchmal sind sie auch irgendetwas dazwischen oder Tiger oder komische Außerirdische – egal, wie sie sich anziehen, wie lang ihre Haare sind oder was und mit wem sie spielen. Damit das möglich wird, müssen immer wieder Klischees infrage gestellt werden, auch unsere eigenen!
Tim Rohrmann ist Entwicklungspsychologe an der Evangelischen Hochschule Dresden und hat sich viel mit geschlechterbewusster Pädagogik in der Kitas beschäftigt.