Warum entzünden sich viele Streitigkeiten in der Familie ausgerechnet an Erziehungsfragen?
Das kann ganz verschiedene Ursachen haben. Grundsätzlich bringt jeder Partner aus seiner Herkunftsfamilie eigene Vorerfahrungen mit. Manchmal können da Welten aufeinander prallen. Wenn sich an Erziehungsfragen aber regelmäßig Streitereien "entzünden", sollte sich das Paar fragen, was in der Beziehung los ist.
Warum fällt es vielen Paaren schwer, als Eltern immer harmonisch zu kooperieren?
Wenn aus Paaren Eltern werden, verändert sich ihre Beziehung grundlegend. Zu zweit kann man sich noch sehr gut direkt aufeinander einstellen, zu dritt ist das viel komplizierter. Stellen Sie sich die Beziehung in der Familie wie ein dreieckiges Mobile vor. Es ist ständig in Bewegung. Mal gibt es mehr Nähe oder Spannungen zwischen Mutter und Kind, mal zwischen den Eltern, mal zwischen Vater und Kind. Dabei können Eifersucht und Ängste entstehen. Die Frage ist dann, ob die Eltern es aushalten, dass sie mal mehr oder mal weniger Nähe untereinander oder zum Kind haben.
Bei vielen Eltern gilt die Regel, bloß nicht vor den Kindern über Erziehungsfragen streiten. Halten Sie das für richtig?
Das kommt darauf an. Erlebt ein Kind, dass sich die Eltern ständig über seine Erziehung streiten, es sozusagen Ausgangspunkt dieser Streitigkeiten ist, können Schuldgefühle entstehen: Wenn ich nicht da wäre, würden sie sich nicht streiten. Außerdem besteht die Gefahr von Loyalitätskonflikten, wenn ein Elternteil erwartet, dass das Kind zu ihm hält. Kinder lieben ihre Eltern beide! Schlimm sind Streitereien, in denen sich Eltern gegenseitig entwerten. Dabei verlieren immer beide. Demgegenüber können verschiedene Standpunkte für das Kind sogar ein Gewinn sein. Es ist spannend und erweitert die soziale Kompetenz mitzubekommen, wie Vater und Mutter zu einer Sache unterschiedlich stehen und Lösungen finden.
Sollten sich Eltern denn nicht wenigstens in Erziehungsfragen immer einig sein?
Eben nicht! Wenn Papa einen Schokoriegel vor dem Essen erlaubt, muss Mama damit keinesfalls einverstanden sein. Ich würde dann einfach sagen: "Da hast du aber Glück gehabt, bei mir hättest du den nicht bekommen!" Dennoch ist eines klar: Wenn Eltern sich im Großen und Ganzen einig sind, ist dies eine eindeutige und sichere Wegweisung für das Kind. Sind sich Eltern allerdings aus Prinzip immer einig, kann das für das Kind sogar Nachteile haben. Es erlebt die Eltern unter Umständen wie eine Wand, an der es ständig abprallt. Und es erlebt nicht, wie Mutter oder Vater auch mal an seiner Seite stehen. Problematisch ist auch, wenn die Einigkeit nur vordergründig besteht, das heißt, sich Vater oder Mutter ganz anders verhalten, wenn der Partner abwesend ist. Das durchschauen Kinder. Eltern büßen so ihre Glaubwürdigkeit ein und sie machen sich erpressbar.
Wie können Eltern erkennen, ob es bei Auseinandersetzungen über Erziehungsfragen um mehr als unterschiedliche Standpunkte geht, zum Beispiel um einen tiefer liegenden Konflikt zwischen den Partnern?
Eltern sollten aufmerksam werden, wenn sie den Ausgang von Konflikten - übrigens nicht nur bei Erziehungsfragen - als Gewinn oder Verlust abbuchen. Dann könnte die Diskussion um angemessene Tischmanieren eines Vierjährigen ein Machtkampf sein mit dem Ziel, dem anderen sein Unvermögen vor Augen zu führen und für sich selbst das "Richtige" zu beanspruchen.
Was raten Sie Eltern, die sich immer wieder über Erziehungsfragen streiten, obwohl sie sich eigentlich ein harmonisches Familienleben wünschen?
Wenn beide sehr engagierte Eltern sind, nehmen sie alles sehr wichtig und wollen alles richtig machen. Dabei kann es entlastend sein, sich vor Augen zu führen, dass sich die Dinge in vielfältigster Weise handhaben lassen. Manches kann man im Hier und Jetzt klären, zum Beispiel die Fragen: Ist jetzt Hände waschen angebracht? Darf das Kind beim Essen nebenbei spielen?
Stellen Eltern fest, dass es immer wieder zum Streit über Erziehungsfragen kommt, ist es wichtig, sich eine günstige Gesprächssituation zu verschaffen, ohne aufgeheizte Atmosphäre. Dann lässt sich ohne Gereiztheit und Zeit- und Entscheidungsdruck herausfinden, was einem in der Erziehung grundsätzlich wichtig ist. Nehmen sich Eltern etwa das Glück des Kindes als Maßstab, können sie alle Entscheidungen aus den Augen des Kindes sehen. Findet der Vater zum Beispiel, sein Sohn müsse unbedingt Hockey spielen, die Mutter jedoch nicht, sollten sie beide genau hingucken: Was will eigentlich das Kind?
Die Fragen stellte Susanne Lindau.