Das, was Menschen anderen Menschen zufügen, hat in der Regel für den Einzelnen schlimmere Folgen als etwa ein Wirbelsturm, der über einen ganzen Landstrich hinwegfegt. Besonders gilt dies für sexuell missbrauchte Kinder. Je jünger das Opfer, je länger der Missbrauch andauert und wenn, was leider meistens der Fall ist, der Täter eine vertraute Person ist, desto verheerender sind die seelischen Folgen.
Warum das so ist, beschreibt Gerd J. Kuznik, leitender Psychologe an der Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie des Kinderkrankenhauses auf der Bult in Hannover: "Der Körper ist die Schutzzone für die Seele. Bei sexuellem Missbrauch wird diese Schranke durchbrochen. Die Seele ist damit dem Täter schutzlos ausgeliefert. Er kann das kindliche Selbstgefühl, das sich ja noch entfaltet, zerstören."
Missbrauchte Kinder brauchen Zeit, um sich zu öffnen
Leonies (9, Name geändert) Seele sendete SOS-Signale. Nachts wachte sie schreiend aus Alpträumen auf. Morgens weigerte sich die bislang leistungsstarke Schülerin immer entschiedener, zur Schule zu gehen. Leonies Verhalten gab der Ärztin, an die sich die allein erziehende
Mutter schließlich wandte, sofort zu denken. Sie vermutete eine "posttraumatische Belastungsstörung". Aber was konnte in Leonie eine derart tiefe Verstörung ausgelöst haben? Die Mutter war ratlos. Weil sich die Situation bald darauf dramatisch zuspitzte, blieb nur die stationäre Aufnahme. In der Klinik vertraute sich Leonie schließlich nach einiger Zeit ihrem Therapeuten an. Ihr Vater, den sie regelmäßig jedes zweite Wochenende besuchte, hatte sie über Monate sexuell missbraucht. Schlimmer noch, er stellte seine Tochter seinen Bekannten "zur Verfügung". Für Leonies Mutter brach eine Welt zusammen. War Leonie nicht gänzlich unbeeindruckt von den Wochenenden beim Vater nach Hause zurückgekehrt?
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Seien Sie besonders aufmerksam, wenn Ihr Kind
- sich ganz plötzlich verändert und dieses Verhalten völlig untypisch ist (Schule verweigert, wenn es sonst gern zur Schule geht, scheinbar grundlos sehr aggressiv reagiert),
- in Verhaltensweisen zurückfällt (z.B. Bettnässen), die schon längst überwunden waren,
- starke Ängste äußert,
- plötzlich Schamgefühle entwickelt, die für sein Alter nicht typisch sind (sich nicht nackt zeigen will),
- häufig so oder ähnlich sagt: "Ich werde sowieso nicht groß." ("verkürzte Zukunftsperspektive"),
- ein sehr hohes, ungewöhnliches Anlehnungsbedürfnis zeigt.
Suchen Sie auf jeden Fall professionelle Hilfe, wenn Ihr Kind
- von Alpträumen geplagt nachts schreiend aufwacht,
- sich selbst verletzt,
- deutlich depressives Verhalten zeigt (sich zurückzieht, Kontakt vermeidet, sehr bekümmert wirkt).
Angst, Ohnmacht, der Wunsch, die Mutter zu schonen, und vor allem Scham hatten Leonie lange Zeit gequält. Nachdem sie sich endlich öffnen konnte, brauchte das Mädchen Zeit, um sich zu beruhigen und zu stabilisieren. Diese Phase bei der Behandlung traumatisierter Kinder dient dem Beziehungsaufbau zwischen Patient und Therapeut. Besonders wichtig ist jedoch zunächst die äußere Sicherheit des Kindes: Der Täter darf auf keinen Fall Kontakt mit seinem Opfer aufnehmen.
Das traumatische Geschehen erzählen und verarbeiten
Bietet der therapeutische Rahmen ausreichend Sicherheit und Stabilität, kann die eigentliche Traumatherapie beginnen. "Während der traumatischen Situation sind die Gefühle so stark, dass der Betroffene sie von der eigenen Person abspaltet", so Gerd J. Kuznik. "Sie bleiben als ‚gesplittete' Eindrücke im Gehirn. Deshalb rufen bestimmte Bilder, Geräusche oder auch Gerüche das Erlebnis in einer Weise hervor, als sei man wieder mitten in der Situation und könne ihr nicht entkommen. Panik und Verzweiflung treten unvermindert wieder auf."
Die Konfrontation mit den traumatischen Erlebnissen ist unabdingbar, damit das Gehirn sie als Erinnerung - als überwundene Vergangenheit - abspeichern kann. Im Kinderkrankenhaus auf der Bult hat sich eine Methode bewährt, bei der der Therapeut dazu auffordert, sich dem Geschehen so zu nähern, als würde ein Film ablaufen. Das Kind darf jederzeit den "Film" unterbrechen und behält damit die Kontrolle über den Ablauf. Überfluten den kleinen Patienten Verzweiflung und Trauer mitten in seiner Geschichte, erinnert ihn der Therapeut tröstend daran: "Jetzt bist du in Sicherheit."
Um den Therapieprozess voranzubringen und verschüttete Gefühle zu thematisieren, kann auch der Therapeut einen Wechsel der Perspektive vornehmen, etwa mit den Worten: "Jetzt schalten wir den Film mal aus. Wie ging es dir bei der Szene, die wir gerade gesehen haben?"
Bei Vorschulkindern sind zum Gesprächseinstieg altersgerechte Geschichten hilfreich. Ein Tier, etwa ein kleiner Eisbär, erzählt dabei in der Ich-Form von sich. Das Kind identifiziert sich mit dem Tier und steigt so in die Geschichte ein, um sie mit eigenen Worten weiterzuerzählen.
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Besteht ein Verdacht auf sexuellen Missbrauch?
- Stellen Sie Nähe zu Ihrem Kind her. Machen Sie es sich gemeinsam auf dem Sofa gemütlich oder nehmen Sie sich besonders viel Zeit vor dem Schlafengehen.
- Bleiben Sie nicht allgemein, sondern fragen Sie direkt nach: "Ist Dir etwas Schlimmes passiert? Magst du darüber jetzt mit mir reden? Du kannst mir alles sagen."
Das macht Ihr Kind stark:
- Schaffen Sie ein Familienklima, in dem ihr Kind alles aussprechen darf, was passiert ist.
- Ihr Kind hat ein Recht auf körperliche Unversehrtheit. Körperliche Zärtlichkeiten durch Erwachsene darf es ohne Not ablehnen. Das gilt auch für Umarmungen wohlmeinender Verwandter.
Leonie benötigte mehrere Therapiestunden, bis sie die Gefühle der Angst und Scham nicht mehr völlig vereinnahmten. Einige Monate dauerte es bis sie - und ihre Mutter - die Geschehnisse so verarbeitet hatten, dass eine Rückkehr in den Alltag möglich war. Die Symptome der posttraumatischen Belastungsstörung verschwanden. Die Narben auf der Seele bleiben, aber Leonie ist stark genug, um damit zu leben.
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Weitere Informationsmöglichkeiten:
Das "Kinderkrankenhaus auf der Bult" in Hannover bietet seit 2000 eine überregionale Behandlungsmöglichkeit für Kinder und Jugendliche mit traumatischen Erfahrungen an:
www.kinderkrankenhaus-auf-der-bult.de
Informationen im Internet über regionale Hilfsangebote:
Bundesverein zur Prävention von sexuellem Missbrauch an Mädchen und Jungen e.V.
www.nina-info.de