Eines Tages bekommen wir sie aufgetischt - die erste Lüge unseres Kindes: Trotz unübersehbarer Spuren im Gesicht behauptet beispielsweise Lena, keine Schokolade gegessen zu haben. Der kleine Henning erzählt lebhaft von dem Indianerhäuptling, den er auf dem Spielplatz getroffen haben will. Und Julia erklärt im Brustton der Überzeugung, die Puppe ihrer Schwester habe sich ihre Haare selbst abgeschnitten. Eigentlich wissen wir ja, dass auch unser Kind nicht immer nur die Wahrheit sagt. Und doch sind wir verunsichert, verärgert oder verletzt, wenn wir es eines Tages beim Schwindeln ertappen. Besonders, wenn unser Nachwuchs - wie in Julias Fall - eine begangene Missetat abstreitet, kommen wir ins Grübeln: Hat mein Kind kein Vertrauen zu mir?
Spinnen in der magischen Phase
Lügen bedeutet, bewusst die Unwahrheit zu sagen. Um das tun zu können, muss das Kind aber erst einmal erkennen, was Wahrheit und Unwahrheit ist. In den ersten vier Lebensjahren kann es das noch nicht. In dieser so genannten "magischen Phase" verschwimmen sehr häufig Fantasie und Wirklichkeit: Kinder erfinden ihre eigene Welt und vermischen sie nach Herzenslust mit der realen - sie "spinnen" im besten Sinne des Wortes. Wenn Ihnen Ihr Kind in diesem Alter berichtet, die Ente aus seinem Bilderbuch habe mit ihm Verstecken gespielt, so hat das mit Lügen nichts zu tun. Vielmehr ist mit Ihrem Kind wieder einmal die Fantasie durchgegangen, was nicht nur völlig normal, sondern auch für seine Entwicklung sehr wichtig ist.
In den zwei Jahren vor der Einschulung reift langsam das Bewusstsein für wahr und unwahr. In dieser Übergangszeit präsentiert uns der Nachwuchs die ersten kleinen Schwindelgeschichten, von denen er zumindest ahnt, dass sie nicht ganz der Realität entsprechen. Dennoch steckt auch hier keine böse Absicht dahinter. Die Flunkereien sind eher ein Spiel, ein Austricksen. Kinder probieren in dieser Phase aus, was wohl passiert, wenn sie zum Beispiel das vom Tisch gestoßene Saftglas dem Wind oder einem Stofftier in die Schuhe schieben.
Psychologen schreiben einer solchen ersten bewusst ausgesprochenen Unwahrheit einen hohen Stellenwert zu: Sie zeigt, dass das Kind den Unterschied zwischen Realität und Illusion begriffen hat. Mehr noch: Sie ist ein Zeichen für Intelligenz. Die Gehirnforschung bestätigt jedenfalls, dass Lügen eine große intellektuelle Leistung ist.
Lügen haben viele Ursachen
Mit seiner Schulreife kann ein Kind definitiv zwischen wahr und unwahr unterscheiden. Doch auch dann ist nicht jede Art von Lüge gleich zu bewerten. Kinder haben verschiedene Gründe, bewusst die Unwahrheit zu sagen. Alle haben einen gemeinsamen Nenner: Die Kinder befinden sich in einer Notlage. An erster Stelle steht die Angst vor Strafe, wenn sie etwas angestellt haben oder ihnen ein Missgeschick passiert ist. Ein anderer wichtiger Anlass für Lügengeschichten sind Schamgefühle: Weil sie ihren Klassenkameraden nicht nachstehen wollen, erzählen sie beispielsweise, dass sie in den Ferien in die Südsee fliegen, obwohl in Wahrheit die Urlaubsreise in diesem Jahr aus Geldmangel ausfallen muss. Überforderung kann ebenfalls zu Lügen führen: Merkt ein Kind zum Beispiel, dass seine schulischen Leistungen nicht den Erwartungen der Eltern entsprechen, so wird es vielleicht versuchen, Misserfolge zu verheimlichen oder gar Erfolge zu erfinden. Schließlich gehört auch Loyalität zu den häufigsten Gründen für Kinderlügen: Niemals würde Tom erzählen, dass sein Freund Alex den Fußball in die Scheibe geschossen hat. Verrat ist in den Augen der meisten Kinder ein wesentlich größeres Vergehen als eine Lüge.
Und wie sollten Eltern reagieren, wenn sie ihr Kind beim Lügen ertappen? Pauschale Urteile sind fehl am Platz. Die Täuschungsmanöver der Kleinen müssen differenziert betrachtet werden. Experten raten, die kindlichen Schwindeleien zunächst nicht allzu ernst zu nehmen. Tatsächlich sind die meisten eher harmloser Natur. Es kommt aber auch vor, dass Kinder sehr häufig und planmäßig lügen oder uns mit Strategien hinters Licht führen wollen, die wir als sehr durchtrieben empfinden. Bedenklich sind auch häufig auftretende, zum Teil haarsträubende Geschichten, die dazu dienen, sich selbst gegenüber Gleichaltrigen aufzuwerten. Hinter diesen Formen der Kinderlügen können handfeste Probleme stehen.
Strafen schützt vor Lügen nicht
Dann ist Sensibilität gefordert. Welche Notlage zwingt das Kind, sich in immer neue Lügen zu verstricken? Diese Frage sollten wir versuchen zu klären. Auf keinen Fall sollte man seinem Kind mit Strafe drohen oder ihm eine Falle stellen, um es der Lüge zu überführen. Fachleute empfehlen Eltern, ihr eigenes Verhalten selbstkritisch zu hinterfragen und dem Kind zu signalisieren, dass sie auch bei Fehlern unbedingt zu ihm stehen. Ein Kind, das bei einer Missetat sehr streng bestraft wurde, wird seine Eltern beim nächsten Mal wahrscheinlich anlügen, denn es hat gelernt: Wenn ich die Wahrheit sage, geht es mir an den Kragen. Kinder lügen nicht, weil sie "böse" sind, sondern weil sie sich in der entsprechenden Situation nicht anders zu helfen wussten. Manchmal hilft schon ein Gespräch, um herauszufinden, welche Alternative es gegeben hätte.
Zum Schluss noch ein Tipp: Überprüfen Sie doch mal, wie Sie es selbst mit der Wahrheit halten. Kinder lernen am Modell: Wie oft konnten sie wohl schon beobachten, dass wir uns am Telefon verleugnen ließen oder der Schwiegermutter Freude über ihren Besuch vorgeheuchelt haben? Halten wir eigentlich den Ansprüchen stand, die wir an unsere Kinder stellen? Wir alle lügen. Und das ist die Wahrheit.