Fragen, Fragen, Fragen. Schon immer wollte Lars Anders alles ganz genau wissen. Als er drei Jahre alt war, interessierte er sich für den menschlichen Körper: Wofür sind die inneren Organe da? Warum hat man Muskeln? Wie funktioniert das Skelett? Den großen Wissensdurst fanden seine Eltern Beate und Michael Anders nicht ungewöhnlich. Sie freuten sich über die Neugier, mit der Lars das Leben aufsaugte. Außerdem fehlte ihnen der Vergleich zu anderen Kindern. Das änderte sich ein Jahr später, als eine Erzieherin aus Lars' Kindergarten Beate Anders anspricht: "So ein Kind hatten wir hier noch nie", sagte sie. "Ihr Sohn spricht ganz anders als die anderen - er benutzt Fremdwörter, anspruchsvolle Satzkonstruktionen und ist überhaupt viel weiter."
Auf Anraten der Erzieherin wurde Lars vorzeitig eingeschult. Doch schon nach einigen Wochen bat die Klassenlehrerin seine Eltern zum Gespräch. Er gehe im Unterricht über Tische und Bänke, rede dazwischen, spiele den Clown. Ihr Urteil: "Zu jung für die Schule." Beate Anders verstand die Welt nicht mehr: Während seine Klassenkameraden gerade das "O" übten, las ihr Sohn abends vor dem Einschlafen den Philospohie-Roman "Sophies Welt". Sie entschloss sich, Lars einer Psychologin vorzustellen. Nach ein paar Sitzungen stand fest: Lars ist hochbegabt. Sein auffälliges Verhalten sei Ausdruck einer Unterforderung, sagte die Psychologin, und empfahl, ihn in die dritte Klasse zu versetzen.
Nicht nur der hohe IQ
Hochbegabung - der Begriff weckt die unterschiedlichsten Assoziationen: vom genialen Wunderkind, vom traurigen Außenseiter, oft auch von ehrgeizigen Eltern, die ihre Kinder mit Leistungsdruck hoffnungslos überfordern. Viele Mythen kursieren. Kein Wunder, denn selbst die Wissenschaft hat keine einheitliche Definition von Hochbegabung gefunden. "Ein wichtiges Merkmal ist die große Intelligenz, also eine hohe Denkgeschwindigkeit und die Fähigkeit zum Schlussfolgern", erklärt der Psychologe Professor Ernst Hany von der Universität Erfurt. In der pädagogischen Praxis hat es sich durchgesetzt, ab einem Intelligenzquotienten von 130 von Hochbegabung zu sprechen. Diesen Wert erreichen nur 2,1 Prozent eines Jahrgangs. Man kann also davon ausgehen, dass von 100 Kindern zwei hochbegabt sind.
Psychologe Hany warnt jedoch davor, den IQ zum Maß aller Dinge zu erheben: "Hochbegabung beinhaltet zusätzlich auch Aspekte der Persönlichkeit wie Motivation und die Ausdauer, sich einem Sachgebiet intensiv zu widmen." Sie muss sich also im wirklichen Leben zeigen - nicht nur in der Praxis eines Psychologen. Betroffene Kinder verfügen, wie Lars, häufig schon im Vorschulalter über Eigenschaften, die auf eine außergewöhnliche geistige Neugier, auf hohe Merk- und Lernfähigkeit hinweisen. Sie können sich zum Beispiel Dinge sicher merken, die ihnen einmal erklärt wurden, zeigen ungewöhnlich verschiedene Interessen und sind sprachlich weiter als ihre Altersgenossen. Weitere Merkmale können sein: Langeweile bei Routineaufgaben, das Streben nach Perfektion, ausgeprägte Selbstkritik. Oft beobachten Fachleute auch eine altersuntypisch große Sensibiltät für die Gefühle anderer, einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn und eine Affinität zu abstrakten und philosophischen "Erwachsenenthemen" wie Krieg und Frieden, Liebe und Hass, Gut und Böse.
Vielfältig anregen
Obwohl hochbegabte Kinder sehr sensibel sein können, sind sie deshalb nicht gleich anfällig für Entwicklungsstörungen. Die Behauptung, dass sie häufig unter drastischer Notenverschlechterung leiden, Verhaltensauffälligkeiten zeigen und vermehrt ins Abseits geraten, entbehre jeder wissenschaftlichen Grundlage, so Ernst Hany. Dennoch möchten betroffene Eltern natürlich wissen, was gut und was schlecht ist für ihr besonderes Kind und wie sie es am besten fördern können.
"Viele Eltern tun instinktiv das Richtige", sagt Ernst Hany. Sie bieten ihrem Kind vielfältige Anregungen durch unterschiedliches Spielmaterial, Freizeitaktivitäten, Reisen, Besuche in der Bücherei. Sie unterstützen es, wenn es sich mit einem Wissensgebiet - zum Beispiel dem menschlichen Körper - eine zeitlang intensiv beschäftigen möchte. "Natürlich wäre es total verfehlt, regelrechte Unterrichtsstunden zu veranstalten", so der Experte. "Wenn ein Kind aber von sich aus den Wunsch äußert und es Spaß daran hat beispielsweise Lesen zu lernen, kann man es ruhig ein wenig anregen."
Wichtig ist auch ein Ausgleich durch Freundschaften - nicht unbedingt zu Gleichaltrigen, besser zu Gleichbegabten, also Älteren. Denn eins steht fest: Ein Kind mit einem IQ von 130 ist seinen Altersgenossen um etwa zwei Jahre voraus. "Deshalb ist auch für hochbegabte Schülerinnen und Schüler der reguläre Schulunterricht oft unangemessen", sagt Hany.
Unterschiede machen
Hochbegabte brauchen einen Unterricht, der auf ihre individuellen Bedürfnisse eingeht. Eine bewährte Methode ist die beschleunigte Schullaufbahn, die so genannte Akzeleration. Dazu gehören die vorgezogene Einschulung und das Überspringen von Klassen. Ein weiterer Maßnahmenkatalog ist das Enrichment, das vertiefte Lernen. Unter anderem reichern Lehrkräfte ihren Unterricht dabei mit individuellen, zusätzlichen Aufgaben an. Wenn ein hochbegabtes Kind zum Beispiel im Mathematikunterricht nach kurzer Zeit mit seinem Stoff fertig ist, während die anderen noch rechnen, stellt ihm der Lehrer Extra-Aufgaben, die seinem Leistungsniveau angepasst sind. Enrichment ersetzt also nicht das normale Unterrichtsprogramm, sondern es erweitert es. Obwohl diese Differenzierung des Unterrichts gut geeignet sei, Unterforderung und Langeweile zu verhindern, warnt Ernst Hany vor zu hohen Erwartungen: "Diese Maßnahme ist sehr aufwändig und daher bei Lehrern nicht beliebt." Auch Beate Anders berichtet von Lehrern, die einem Kind auf keinen Fall eine Sonderbehandlung zukommen lassen wollen. "Es gibt aber nichts Schlimmeres als die Gleichbehandlung von Ungleichen", sagt sie.
Eigentlich ganz normal
Lars ist inzwischen 14 Jahre alt und besucht die neunte Klasse eines Gymnasiums. Seine Mitschüler sind im Durchschnitt zwei Jahre älter als er. Das stört aber weder ihn noch sie. Bis vor kurzem hat er zweimal in der Woche gefochten, doch neuerdings braucht Lars fast all seine Freizeit für ein Fantasie-Rollenspiel mit komplizierten Regeln. Den Großteil seines Taschengeldes investiert er in die kleinen Selbstbau-Figuren, die er dafür benötigt. Weihnachten war er in einem Strauß-Konzert, ansonsten hört er gern Hip-Hop-Musik. Einige Lehrer mag er gern, andere nerven ihn. Er surft viel im Internet und liebt die TV-Serie "Die Simpsons". Irgendwie ist Lars Anders ein ganz normaler Junge.