Auch wenn es uns nicht immer bewusst ist: Eines der wichtigsten Ziele unserer Erziehung ist die Selbstständigkeit unserer Kinder. Schließlich müssen sie eines Tages für sich die alleinige Verantwortung übernehmen, sich selbst und die nächste Generation schützen und versorgen. "Das ist ja noch so lange hin", wenden Sie vielleicht ein. Stimmt. Aber Selbstständigkeit stellt sich nicht in einem bestimmten Alter automatisch ein. Sie ist vielmehr das Ergebnis eines langen Lernprozesses, der in der frühesten Kindheit einsetzt. Dieser Prozess besteht aus unzähligen kleinen Schritten und hat bereits begonnen, wenn Ihr Kind zum ersten Mal bewusst das Wort "Ich" benutzt und damit erkannt hat, dass es eine eigene Person ist.
Selbstständigkeit bedeutet Unabhängigkeit. Das heißt auch, dass wir unsere Kinder loslassen müssen. Natürlich geschieht das nicht abrupt und auch nicht im Sinne von fallen lassen, sondern allmählich und im Sinne von Freiraum gewähren. Die Erziehung zur Selbstständigkeit ist eine Gratwanderung: Es gilt, die Mitte zu finden zwischen überbehütendem Festhalten und plötzlichem Wegstoßen.
Je kleiner ein Kind ist, desto wichtiger ist es, dass es sehr viel körperliche Nähe erfährt, die ihm Geborgenheit und Schutz vermittelt. Obwohl ein Säugling ganz und gar abhängig ist, legen Eltern bereits bei ihm den Grundstein für spätere Selbstständigkeit. Denn durch die Fürsorge, die sie ihm angedeihen lassen, entwickelt ein Kind Urvertrauen zu seinen Eltern. Dieses Gefühl des Rückhalts und der Sicherheit ist die beste Voraussetzung dafür, dass der lange Weg des gegenseitigen Loslassens funktioniert.
Eigeninitiative fördern
Kinder wollen selbstständig sein, das gehört zu ihrem "Bauplan". Damit wäre eigentlich alles recht einfach, doch der Alltag sieht oft ganz anders aus. So möchte der dreijährige Tom sich selbst die Schuhe zubinden, bevor seine Mutter ihn morgens in den Kindergarten bringt. Allerdings dauern seine Versuche jedes Mal eine halbe Ewigkeit. Also nimmt seine Mutter ihm die Arbeit ab, natürlich unter Toms lautstarkem Protest. Der Junge ist frustriert, denn sein Bedürfnis nach Unabhängigkeit bekommt einen empfindlichen Dämpfer. Eines Tages gibt er auf und lässt sich wieder ohne zu murren die Schnürsenkel binden. Das Beispiel zeigt, wie schnell sich Kinder entmutigen lassen. Um das zu verhindern, könnten Toms Eltern mit ihrem Sohn das Zubinden üben, und zwar ohne Zeitdruck am Nachmittag. Kinder, denen alles abgenommen wird, können nicht selbstständig werden.
Dass Kiga-Kinder gern im Haushalt helfen möchten, ist ein weiteres Zeichen für das Streben nach Selbstständigkeit. Auch hier gilt: Wenn es eben geht, sollten Sie Ihr Kind nicht bremsen. Finden Sie einen Kompromiss, mit dem Sie und Ihr Kind zufrieden sind. Möchte es zum Beispiel Frühstück machen? Dann schlagen Sie ihm vor, es zusammen zu tun - Sie übernehmen die gefährlichen Arbeiten am Herd, während Ihr Kind den Tisch deckt.
Loben und Vertrauen
Bei all seinen großen und kleinen Versuchen braucht Ihr Kind viel Bekräftigung: Sparen Sie nicht mit Lob, wenn die Schnürsenkel sitzen oder der Tisch gedeckt ist. Auch wenn nicht alles perfekt ist, lässt sich immer ein Teilerfolg ausmachen. Und geht beim Tischdecken ein Teller zu Bruch, erinnern Sie sich an Ihre erste Fahrstunde und versuchen Sie, Ihr Kind nicht zu entmutigen, sondern zeigen Sie ihm, wie es besser klappen kann.
Problematische Schritte in Richtung Selbstständigkeit der Kinder sind für Eltern oft solche, bei denen ihr Beschützerinstinkt ins Spiel kommt: Soll Lisas Mutter ihrer fünfjährigen Tochter erlauben, allein zum Spielplatz zu gehen? Soll Kais Vaters seinem Sohn den Umgang mit seinen neuen Freunden untersagen, weil sie - wie er glaubt - einen schlechten Einfluss auf ihn haben? Und wie steht es mit Sophies Taschengeld: Sollte man die Siebenjährige daran hindern, ihre gesamten Ersparnisse für Diddl-Blöcke auszugeben?
Es gibt keinen Merksatz, der erklärt, ab welchem Alter Kinder etwas allein bestimmen oder tun dürfen. Die Entscheidung ist vom Entwicklungsstand des Kindes abhängig und vom Vertrauensverhältnis zwischen ihm und seinen Eltern. Fest steht: Kinder brauchen einen gewissen Freiraum, um Selbstständigkeit zu entwickeln. Gewähren Sie diese Freiräume, wo Sie es verantworten können. Bevor Sie "Nein" sagen, gehen Sie in sich: Ist Ihr Kind wirklich zu klein für sein Vorhaben? Bedenken Sie, dass etwas Herzklopfen meist dazu gehört. Das liegt in der Natur der Sache: Loslassen ist manchmal recht schmerzhaft. Doch wenn Ihr Kind das erste Mal allein vom Spielplatz zurückkommt, werden Sie mit ihm zusammen froh und stolz sein.