Kindern Besitz erklären"Deins ist jetzt Meins!"

Kinder kennen den Begriff Besitz noch nicht. Alles, was sie sehen, gehört erst mal ihnen.

Kindern Besitz erklären:
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"Meins!" Mit aller Kraft zieht Sarah an der Schaufel, und Vincent am anderen Ende denkt gar nicht daran, loszulassen. Sarah hält fest und Vincent hält fest, und wir friedliebenden Sandkasten-Mütter würden am liebsten so tun, als sähen wir nichts. Mein Gott, ist uns das peinlich! So früh schon ein so ausgeprägtes Besitzdenken! Und dabei haben wir doch, kaum dass das Kind sprechen konnte, sozialverträgliches Verhalten eingeübt: das Buch vom Regenbogenfisch vorgelesen, der seine Schuppen herschenkt zum Wohle der Allgemeinheit, jedes Geschenk aus der Patschhand haben wir mit einem politisch korrekten "Danke" quittiert. Und nun sitzen wir am Sandkasten, die Vorfrühlings-Sonne schickt ihre ersten wärmenden Strahlen, alles könnte so schön sein. "Meins!" Dieses Monster-Kind! Warum will es alles für sich? Warum kann es nichts abgeben? Und schnellen Schrittes sind wir an der Sandkiste. Entwinden dem Egomanen sein Objekt der Begierde, überlassen es dem Rivalen. Die anderen Mütter um die Szene herum nicken zufrieden, und wir fühlen uns bestätigt: sozialverträgliches Verhalten müssen wir fördern.

Aber unser Kind, das steht neben uns und staunt. Was hat es falsch gemacht?

Aus seiner Sicht gar nichts. Es versteht das Handeln seiner Mutter nicht. Denn es hat noch keine Ahnung von Besitz, von Reichtum, vom Anhäufen von Gütern. Es wollte nur eins: mit dieser Schaufel spielen, jetzt, in genau diesem Augenblick. Denn in den wenigen Monaten, in denen es auf der Welt ist, hat es versucht, die Welt kennen zu lernen, und das konnte es nur, indem es so tat, als sei es seine. Alles war neu für das Kind: der Geruch im Kinderzimmer und die Gesichter von Mutter und Vater, der Wind und der Regen und das Gefühl, die Händchen im Sand zu vergraben. Am Anfang des Lebens kann man solche Sensationen nicht einfach nur ansehen und in seinem Gehirn speichern: Das Kind muss sie erleben, sich zu eigen machen - besitzen. Die ganze Welt muss das Kind besitzen, um sie zu verstehen.

Die ganze Welt gehört dem Kind

"Egozentristisch" nennen die Psychologen dieses besitzergreifende Empfinden am Anfang des Lebens. Das Kind und seine Welt sind eins. Und alles, alles gehört dem Kind: der Garten mitsamt all den Regenwürmern und das Kinderzimmer und die Mutter sowieso. Denn das Kind muss sich erst einmal einrichten in der Welt, es hat keinen Begriff für das "Du", geschweige denn für das Teilen mit anderen. Das Kind ist die Welt, und die Welt ist für das Kind die Kulisse, in die es hineingeboren wurde und die es nun in Beschlag nimmt. Alles muss es bei sich haben, um es kennen zu lernen und sich vertraut zu machen. Die Schaufel ist für die Mutter ein Gegenstand, den sie so nebenbei im Laden gekauft hat. Für das Kind ist die Schaufel ein Wunderding: ein Geschenk der Mama, ein Zaubergerät, mit dem man Sand bewegen kann. Sie riecht nach Spielplatz-Spaziergang, nach Sand und nach Sonne. Diese Schaufel ist ein Teil der langsam erkannten und eroberten Welt. So etwas gibt man nicht so einfach her!

"Aber Vincent möchte doch auch mal damit spielen!" Wie sinnlos ist ein solcher Appell! Das, was wir Erwachsenen unter "moralischem Verhalten" verstehen, und dazu gehört eben auch das Teilen mit anderen, ist dem Kind noch fremd. Das Kind ist ein Egoist, und das muss es auch sein. Es hat genug damit zu tun, sich in dieser ganz fremden Welt einzurichten. Es hat vor kurzer Zeit sein "Ich" entdeckt und ist damit voll beschäftigt. Das "Du" ist noch kein Thema in den ersten beiden Lebensjahren.

Soziales Empfinden wächst allmählich

Noch weit in die Kindergartenzeit reicht das, was wir als Egoismus bezeichnen, hinein. Denn noch immer ist das Kind weit entfernt von der Meta-Ebene, von der aus Erwachsene die Welt betrachten und bewerten. Mitgefühl, sich einfinden in andere, sich selbst zurücknehmen - das sind Werte, die ein Kind aus sich selbst heraus noch nicht leisten kann. Es steht so unmittelbar und direkt und leidenschaftlich in seinem noch neuen Leben; Distanz und kühle Abstraktion kennt es noch nicht. Erst allmählich, durch die Reaktionen seiner Umwelt, lernt es sich gesellschaftsadäquat zu verhalten. Lernt, sich in andere Menschen hineinzuversetzen. Lernt, dass es ein soziales Wesen ist. Und am besten lernt es das ganz ohne unsere Kommentare und Drängeleien. Denn es wird geprägt durch seine Umgebung, mehr als durch verbale Beeinflussungsversuche. Seine auf sich selbst bezogene Weltsicht geht erst allmählich über in ein Beobachten und Erfahren der Außenwelt - und dann beginnt das Kind, die Reaktionen anderer Menschen in sich aufzunehmen. Beginnt, sich Gedanken zu machen über die Reaktionen auf sein Verhalten. Es merkt, dass es ein anderes Kind traurig macht, wenn es dessen Bauwerk umgestoßen hat. Es sieht das andere Kind weinen. Fühlt, dass es selbst die Fähigkeit hat zu trösten, sieht sich selbst im sozialen Austausch mit den anderen und gibt von dem ab, was es mag, um akzeptiert zu werden in seinem Umfeld.

Die Jeans, der Ranzen, die Musik

"Meins!": Etwas später kommt eine Phase, in der dem Kind das Haben-Wollen, und das im tatsächlichen Sinn von "Besitz, ungemein wichtig ist. Die aktuelle CD, die modische Hose, der Ranzen mit dem angesagten Label... In der sozialen Gemeinschaft wachsen solche Wünsche, und deren Erfüllung empfinden die Kinder oft als Maßstab für die Akzeptanz in der Gruppe. Die finanziellen Möglichkeiten der Eltern scheinen in dieser Phase die Weichen zu stellen fürs Lebensglück. Nein, dafür brüllen unsere Kinder nicht die Nachbarschaft zusammen, aber sie jammern und klagen und betteln zum Herzerweichen.

Auch hier, wie damals am Sandkasten, ist Geduld die beste Medizin. Eltern, die dem ohne Aufregung begegnen, dem Kind deutlich erkennbare Herzenswünsche erfüllen, aber schnelllebigen Augenblicksbedürfnissen widerstehen, geben, zusammen mit dem eigenen Vorbild, dem Kind ein gesundes Fundament mit auf den Lebensweg. In diesem Alter können unsere heranwachsenden Kinder schon verstehen, dass Konsumgüter diesen kurzen momentanen Lebensabschnitt angenehm machen, aber dass sie nicht geeignet sind, um dem Leben einen Sinn zu geben. Eine Alternative zum Besitz von Markenklamotten - sei es die Begeisterung für Bücher, für Musik, für sportliche Aktivitäten... - lenkt die Kinder ab vom so vergänglichen Besitz.

Der beständigste Besitz ist das Wissen, sind die Fähigkeiten und Gefühle, die ein heranwachsender Mensch in sich trägt. Das Fundament dafür findet er in seinem Elternhaus. Denn die Atmosphäre, die das Kind in seiner nächsten Umgebung schnuppert, saugt es in sich auf: sie ist der Nährboden für alle späteren Erfahrungen. Eine liebevolle Grundstimmung und ein anregendes Umfeld, selbst wenn die Randbedingungen nicht optimal sind, schenken dem Kind das nötige Selbst-Bewusstsein und damit die Basis für eigene Urteilskraft.

"Meins!" Wieder greift Sarah nach der Schaufel. Vincent aber hat entdeckt, dass sich dünne Wasser-Rinnsale durch den Sand ziehen. Er lässt ab, wendet sich den Spuren zu, den der Regen im Sandkasten hinterlassen hat. Sarah lässt die Schaufel fallen, kniet sich neben Vincent in den Sand. Die Mutter steigt über den Rand der Sandkiste, greift die Schaufel, packt sie ein für den nächsten Ausflug. Sarah nimmt es nicht zur Kenntnis. Die kleinen Bäche, die sich durch den Sand schlängeln, sind jetzt viel wichtiger.

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