Lesen und schreiben lernenAuf der Jagd nach Buchstaben

Jedes Kind kann lesen und schreiben lernen, jedoch ist das Tempo hier individuell unterschiedlich. Einige Kinder kennen im Kindergarten schon alle Buchstaben andere nur ein paar Wörter. Wie Kinder lesen und schreiben lernen kann ganz unterschiedlich sein. Wie können Eltern denn ihre Kinder dabei unterstützen?

Auf der Jagd nach Buchstaben
© fizkes - iStock
Manche haben es sich selbst beigebracht. Andere kommen in die Schule und kennen keinen Buchstaben. Die meisten kritzeln schon ihren Namen aufs Blatt: Schulanfänger haben beim Lesen und Schreiben Entwicklungsunterschiede von bis zu vier Jahren. Sollten Eltern da nicht schon vor dem ersten Schultag gezielt mit dem Nachwuchs üben?

"Versuchen Sie nicht, Ihr Kind selbst zu unterrichten", sagt der Siegener Professor Hans Brügelmann. Kein Mensch käme auf die Idee, einem Kind das Sprechen systematisch beizubringen. Und so ist auch das Lesen- und Schreibenlernen mehr als Buchstabenaufsagen und ABC-Training. "Schon Kinder sind scharfe Denker, die ihre Vorstellungen von Schrift aus sehr persönlichen Alltagserfahrungen entwickeln", erklärt der Experte für Anfangsunterricht. Nach und nach erschließen sich Kinder das komplexe System, indem sie selbst und aktiv seine Logik zu entschlüsseln suchen.

Und dazu gehören zunächst auch Deutungen, die Erwachsenen absurd scheinen: Eine Maus ist klein und hat deshalb nur vier Buchstaben. Ein Elefant ist riesig und hat deshalb sieben. Davon ist der fünfjährige Lukas überzeugt. "Du liest nicht, weil ich hör ja gar nichts", sagt die gleichaltrige Lena zu ihrer Mutter, die in ein Buch vertieft ist. Und Eveline mit den langen Haaren, die beim Kämmen immer fürchterlich ziepen, schreibt den Buchstaben "E" in ihrem Namen mit vier Querstrichen, so dass er aussieht wie ein Kamm: "Jetzt weiß i endlich, warum i drei Kämm' in mein'm Nam'n hab!" (Beispiel aus: Hans Brügelmann (Hg.): Kinder lernen anders - vor der Schule in der Schule. 1998 Libelle)

Schrift im Alltag erfahren und ausprobieren

"Damit ein Kind Vorstellungen entwickeln kann, was Lesen und Schreiben ist, braucht es Vorbilder und Möglichkeiten zum Probieren", sagt Hans Brügelmann. Schrift ist etwas Selbstverständliches im Alltag und nicht Inhalt einer anstrengenden Unterrichtsstunde mit Mama oder Papa. Wo Erwachsene selbst einen Bezug zur Schrift haben, lernt auch das Kind: Die Eltern lesen Zeitung, im Regal stehen Bücher, im Briefkasten liegt Post. In der Fernsehzeitung steht, wann die Lieblingssendung kommt. An der Kinderzimmertür hängt der eigene Name. Bei McDonalds steht am Anfang ein großes "M" und bei Aldi ein großes "A".

"So wie Sie Ihrem Kind den Bagger auf der Baustelle erklären, so können Sie auch Schrift und Zahlen für Ihr Kind interessant machen", argumentiert der Erziehungswissenschaftler. Im Supermarkt kann der Erwachsene erzählen, was er sucht: "Hier steht Zucker drauf - wo ist denn das Mehl?" Er kann den Einkaufszettel zücken und kommentieren: "Was haben wir denn noch aufgeschrieben?" Wenn ein Kind malt, können die Eltern mit ihm darüber sprechen und beispielsweise einen Titel für die Zeichnung anbieten: "Mein Zuhause - soll ich dir das darunter schreiben?" So erlebt ein Kind, wie Sprache zur Schrift wird. Und wenn Mutter oder Vater beim Vorlesen mit den Fingern die Zeile entlangfahren, merkt das Kind, dass es eine Leserichtung gibt.

Zugewandtheit, Vorbilder und keine starre Methode - das sind Merkmale aus Familien, in denen sich Kinder das Lesen selbst beigebracht haben. Eine Untersuchung zeigt, dass die meisten Kinder aus Neugier zur Schrift gefunden haben. Sie wollten Bücher selbst verstehen, das Rätsel der Zeichen auf dem Blatt selbst knacken. Wichtig waren Modelle im alltäglichen Familienleben und Unterstützung im richtigen Moment: "Die Kinder haben nur gefragt, wenn sie konkret etwas wissen wollten", sagt Hans Brügelmann.

In der Grundschule auf Entwicklungsunterschiede eingehen

Etwa ein bis zwei Kinder pro Klasse haben sich schon vor der Einschulung das Lesen beigebracht. Fünf bis zehn Prozent, so schätzen Experten, kennen mehr als zwanzig Buchstaben und können einzelne Wörter ohne Hilfe lesen. Mehr als die Hälfte der Schulanfänger können kein Wort lesen. Die Grundschulen stellen sich zunehmend darauf ein: mit offenen Unterrichtsformen oder der flexiblen Schuleingangsphase. "Wir versuchen, jedem Kind das Seine zu bieten und zeigen unseren Schülern, dass es sich lohnt, Lesen und Schreiben zu lernen", sagt Jutta Heisig, Rektorin an einer Stuttgarter Grundschule. "Dadurch motivieren wir sie, den mühsamen Lernprozess auf sich zu nehmen." Einmal pro Woche kommen Vorlesepaten in den Unterricht, Freiwillige aus der Nachbarschaft. Kinder dürfen im Unterricht ihre Lieblingsbücher vorstellen und die Stadtbücherei liefert Bücherkisten über Frühblüher, Fahrräder, Fische und andere Wunschthemen. Jedes Jahr fährt der Bücherbus mit dem Bilderbuchkino vor, bei dem mit Beamer aus verschiedenen Büchern vorgelesen wird. Auf Elternabenden erhalten Mütter und Väter Tipps, welche Bücher sich für junge Leser eignen und wie die Familie "lesefreundlich" wird (siehe Infokasten).

Denn auf dem Weg zur Schrift ist das Vorlesen ein entscheidender Schritt. Kinder erfahren Zuwendung, haben das schöne Gefühl, in fremde Welten einzutauchen, und entwickeln die Lust, eines Tages selbst lesen zu können. "Lassen Sie das Kind aussuchen, was es vorgelesen haben will und wie lange", rät Hans Brügelmann fürs Vorlesen in der Familie. Wenn Kinder ihren Interessen folgen können und Schrift mit dem Leben zu tun hat, dann bildet sich allmählich ein tiefes Verständnis für das komplexe System des Lesens und Schreibens. "Das Kind reizt auf seinem Niveau aus, was es kann", erklärt der Professor. "Es reicht, ihm Angebote zu machen und seine Leistungen anzuerkennen". Wenn etwa ein Erstklässler "Hund" als "Hont" schreibt, sei das eine erstaunliche Leistung, weil das Kind die Lautfolge seiner Aussprache richtig abgehört habe. "Es wäre falsch, daran herumzumäkeln." Stattdessen könnten Erwachsene dem Kind einen Vergleich anbieten: "Wenn du willst, kann ich dir dazu schreiben, wie die Großen das schreiben".

Lesestoff für Erstleser

Ihr Kind hat das Lesen gelernt und Sie suchen jetzt ein Buch. Doch was eignet sich für Erstleser? Tipps von Barbara Knieling, Buchhändlerin und Referentin für Erwachsenenbildung in Stuttgart:

  • Nicht gleich ein reines Textbuch kaufen, Bleiwüsten schrecken ab.
  • Die Zeilen sollten kurz sein, sechs Wörter pro Zeile reichen. Manche Bilderbücher sind zum Vorlesen konzipiert und haben lange Zeilen - sie eigenen sich nicht.
  • Wichtig ist ein großer Zeilenabstand, damit beim Vorlesen der Finger nicht verrutscht.
  • Lesefreundlich sind Zeilen, die nicht als Block gedruckt sind, sondern im so genannten Flattersatz.
  • Machen Sie sich selbst mit dem Buch vertraut und erzählen Sie Ihrem Kind vorher, worum es geht. Wenn ein Kind weiß, worum es geht, fällt das Lesen leichter.
  • Wenn ein Kind kein Freund von Geschichten ist, eignen sich auch Sachbücher. Aber Vorsicht: Die Darstellung sollte übersichtlich sein.
  • Manche Kinder lieben Verse und Gedichte. Der Leseanreiz ist hoch, da die Kinder die Texte bald auswendig können.
  • Ein gutes Buch ist ein Buch, das gerne gelesen wird.
  • Weniger ist mehr: den Kindern nicht durch Überforderung die Freude am Lesen nehmen.

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