Links- oder rechtshändig - das hat uns die Natur über die Vererbung mit auf den Weg gegeben: "natürliche Händigkeit", so der Fachausdruck. Manchmal bestimmen krankhafte Störungen den Handgebrauch eines Menschen. Häufiger aber kommt es vor, dass ein Mensch nicht seine natürliche Händigkeit im Alltag gebraucht.
Eigene Erfahrungen aus der Praxis als Erzieherin zeigen, dass bis zu 25 % der Kinder einer Kindergartengruppe linkshändig sind. Statistische Vermutungen und Untersuchungen gehen von einer Linkshänderzahl von 20 - 50 % aus.
Es gibt gute Gründe, sich linkshändigen Kindern näher zuzuwenden:
- Umwelt und Alltagsgestaltung sind auf Rechtshänder zugeschnitten (Arbeitsgeräte wie Dosenöffner und Scheren; Traditionen wie "mit rechts essen"; die häufig in ihren Lernmethoden auf rechts zugeschnittene Unterrichtspraxis).
- Linkshänder sind anders (führen Tätigkeiten anders aus; fühlen, denken, lernen anders).
- Links- und beidhändigem Hantieren wird nur geringe Bedeutung beigemessen.
- Die Gefahr einer Umschulung auf rechts ist sehr groß, aber niemals anzustreben.
Aber warum ist es so wichtig, Kindern mit Linkshändigkeit keine Steine in den Weg zu legen, sie so zu lassen, wie sie sind, sie sogar zu stärken? Wäre es nicht einfacher, die Kinder auf rechts zu gewöhnen? Eine kleine "Expedition" ins menschliche Gehirn gibt Antworten und hilft, betroffene Kinder zu verstehen und zu fördern.
Wie kommt Linkshändigkeit zustande?
Das menschliche Gehirn besteht aus einer rechten und einer linken Gehirnhälfte. Diese arbeiten über einen Balken voller Nervenstränge (Balken) zusammen und sorgen dafür, dass Körper, Verstand und Gefühl sich optimal entwickeln. Dabei haben die Gehirnhälften gleiche, aber auch unterschiedliche Aufgaben.
Die meisten Steuerungen des Gehirns erfolgen über Kreuz. Deshalb ist die rechte Gehirnhälfte für die Bewegung der linken Körperseite verantwortlich und die linke Gehirnhälfte für die rechte Körperseite. Bei paarig angelegten Organen ist eines der Organe oft stärker entwickelt und überlegen (dominant). So auch im Gehirn. Eine Hälfte wird bevorzugt genutzt, ist leistungsfähiger und stärker ausgeprägt. Bei Rechtshändern ist die linke Gehirnhälfte dominant, bei Linkshändern die rechte - die Über-Kreuz-Steuerung macht's möglich. Links- oder Rechtshändigkeit ist also nicht allein Gewohnheits- und Erziehungssache, sondern Ausdruck der unterschiedlich stark bevorzugten Nutzung der Gehirnhälften.
Bei den meisten Kindern zeigt sich die natürliche Händigkeit recht früh und eindeutig, bei manchen erst später. Bis zum Eintritt in die Schule ist dieser Prozess in der Regel abgeschlossen.
Mit zunehmendem Alter des Kindes entwickeln sich die Gehirnhälften und differenzieren sich aus. Sie bleiben dabei intensiv in Kontakt und kooperieren über den Balken. Werden beide Seiten des Gehirns gefördert, vernetzen sie sich zugleich miteinander. Dies geschieht bei Kindern vor allem dann, wenn sie sich viel bewegen und mit allen Sinnen (vorwiegend beim Spielen) lernen. Auch wenn eine Gehirnhälfte bevorzugt genutzt wird - die Entwicklung des ganzen Gehirns ist notwendig, damit sich Kinder gut entwickeln.
Was kann passieren, wenn linkshändige Kinder dazu angehalten werden, mit rechts zu schreiben, zu malen oder zu essen? Oder sie es sich selbst beibringen? Oder es einfach passiert, weil die Linkshändigkeit nicht bemerkt wird?
Mögliche Folgen von Umschulung und Vernachlässigung von Linkshändigkeit
Motorische Abläufe könnte ein Kind schon mit der anderen Hand lernen - nur spielt das Gehirn nicht mit. Und das kann schwerwiegende Folgen haben. Gehirnhälften ändern ihre Dominanz nicht. Wird der anlagegemäße Gebrauch der Hände gestört, arbeiten auch die beiden Gehirnhälften nicht mehr einwandfrei zusammen. Dies kann zu "Wackelkontakten" führen. Die dominante Gehirnhälfte wird nicht genügend gefordert und kann sich nicht weiterentwickeln. Die nicht dominante Gehirnhälfte dagegen wird überlastet und überfordert: Entgegen ihrer Veranlagung muss sie jetzt die Hauptarbeit leisten.
Mögliche Folgen: das Gehirn quittiert die Über- bzw. Unterforderung durch "falschen" Handgebrauch mit
- Gedächtnisstörungen (Lernen, Behalten, Abrufen von Lerninhalten)
- Konzentrationsstörungen (geringes Aufmerksamkeits- oder Durchhaltevermögen)
- feinmotorische Störungen (verkrampftes Malen, Zittern, nicht innerhalb von Linien bleibend, zu viel oder zu wenig Kraftaufwand bei Tätigkeiten...)
- Sprachstörungen
- spätere Lernstörungen in der Schule.
Frust, Misserfolg, Überanstrengung, das Gefühl "mit mir stimmt etwas nicht" stellen sich ein und finden ihren Niederschlag in verschiedenen Verhaltensauffälligkeiten wie Minderwertigkeitsgefühlen, Rückzug, Unausgeglichenheit, Trotz- und Provokationsverhalten, Unlust, Vermeidungstendenzen, ständige Selbstüberforderung, Angst und Unsicherheit, Bettnässen, Nägelkauen usw..
Um Missverständnisse auszuschließen: Die genannten möglichen Störungen und Verhaltensauffälligkeiten folgen nicht zwingend aus einer Umschulung der Hand. Es können auch andere Ursachen vorliegen.
Wie gehe ich mit der Linkshändigkeit meines Kindes im Alltag um?
"Machs mit links!", ist der wichtigste Rat. Lassen Sie Ihr Kind selbstbestimmt Hantieren, egal womit (Malen und Schreiben sind die wichtigsten Tätigkeiten).
Weitere Anregungen zur Alltagsgestaltung:
- Bei Bedarf stellen Sie Arbeitsgeräte wie Linkshänderschere, Linkshänderfüller, Sparschäler usw. bereit.
- Bei Arbeitsmaterialien und Dingen des täglichen Gebrauchs sollte möglichst viel Selbstbedienung gelten, kein "In die Hand geben".
- Berücksichtigen Sie beim Tischdecken die Linkshändigkeit des Kindes (z.B. Besteck und Tasse links oder in der Mitte platzieren).
- Machen Sie nichts vor und leiten Sie Ihr Kind nicht rechtshändig an.
- Suchen Sie das Gespräch mit allen, die an der Erziehung beteiligt sind (z.B. Großeltern, Kindergarten), um an einem Strang zu ziehen und umschulenden Einfluss zu mindern bzw. zu verhindern.
Als Eltern kennen Sie Ihr Kind: Sie können diese Anregungen individuell auf Ihr Kind und Ihre Lebenssituation zuschneiden. Und sicher haben Sie viele eigene Ideen und Erfahrungen.