"Mädchen schämen sich früher und mehr als Jungen." Dieser Ansicht waren die meisten Teilnehmerinnen und Teilnehmer einer Elternbefragung zum Thema "Kindliche Körperscham und familiale Schamregeln". Die Studie, durchgeführt im Auftrag der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA), brachte jedoch Überraschendes zu Tage. Die wichtigsten Ergebnisse:
- Die meisten Kinder schämen sich zum ersten Mal zwischen ihrem dritten und fünften Lebensjahr, einige aber auch schon früher. Bis zum achten Geburtstag hat praktisch jedes Kind Schamreaktionen gezeigt. Es gibt keinen Unterschied zwischen Mädchen und Jungen bezüglich des Beginns der Körperscham.
- Ob Eltern freizügig oder weniger freizügig sind, spielt für das Einsetzen der Körperscham keine Rolle.
- Am Anfang schämen sich Kinder ausschließlich für sich (Selbstscham), das heißt, sie möchten sich an bestimmten Körperstellen nicht berühren lassen, ziehen sich zurück, wenn sie in die Windel gemacht haben oder wenn sie sich umkleiden. Für Grenzüberschreitungen gegenüber anderen (zum Beispiel jemanden beim Toilettengang überraschen) schämen sich Kinder erst später. Sie müssen erst lernen, sich in andere hineinzuversetzen, um die "Peinlichkeit" einer solchen Situation verstehen zu können. Auch hier gibt es keine Unterschiede zwischen Mädchen und Jungen.
- Kinder orientieren sich zunächst an den Verhaltensregeln ihrer Familie. Erst aufgrund der Reaktionen der anderen verknüpfen sie Regelverstöße mit Schamgefühlen. Wenn Eltern zum Beispiel die Berührung von Kot mit "Bah!" kommentieren oder Nacktheit missbilligen, spüren Kinder, dass sie "etwas falsch gemacht" haben.
Eltern sind unterschiedlich freizügig. Die einen möchten grundsätzlich im Badezimmer allein sein, andere haben kein Problem damit, das Bad mit anderen Familienmitgliedern gleichzeitig zu benutzen. Die Studie zeigt aber, dass Mütter und Väter sich über gewisse Grundregeln einig sind: In ihrem Liebesleben hat der Nachwuchs nichts zu suchen, ebenso wenig beim "großen Geschäft" auf dem Klo. Die Genitalien der Kinder werden nicht mehr berührt, sobald diese in der Lage sind, sich selbst zu pflegen. In der Öffentlichkeit bedeckt man Geschlechtsorgane und Brüste. Intimpflege gehört in die Abgeschiedenheit des Bades. Diese Normen vermitteln Eltern Jungen wie Mädchen gleichermaßen.
Ihr Beginn hängt bei Jungen wie Mädchen offenbar vom Entwicklungsstand des Kindes ab.
Tatsächlich stellt die Studie der BzgA nur zwei, dazu wenig bedeutende Unterschiede im Schamverhalten von Mädchen und Jungen fest:
- Jungen schämen sich deutlich früher vor ihren Müttern als Mädchen vor den Vätern. Die Ursache liegt nach Meinung der Forscherinnen und Forscher darin, dass beide Geschlechter im frühen Alter überwiegend Kontakt mit der Mutter haben. Jungen müssen sich ihr gegenüber stärker abgrenzen um ihre eigene Identität zu finden.
- Im Bezug auf das "große Geschäft" sind Mädchen früher zurückhaltend als Jungen. Das könnte daran liegen, dass bei ihnen aus Hygienegründen früher und stärker auf Reinlichkeit geachtet wird.
Fazit: Eltern in Deutschland erziehen ihre Kinder (erfolgreich) dazu, sich schamhaft zu verhalten. Auch wenn sie sich dessen nicht immer bewusst sind, machen sie dabei kaum Unterschiede zwischen Mädchen und Jungen. Neben individuellen Familienregeln stützen sie sich offensichtlich auf allgemein anerkannte Normen. Solche Schamstandards, darin stimmen die Fachleute überein, sind für das gesellschaftliche Zusammenleben notwendig. Sie kontrollieren spontane Bedürfnisse und schützen vor Übergriffen, vor allem im Bereich der Sexualität. Schamgefühle garantieren, dass man die Grenzen anderer respektiert (Fremdscham) und helfen den Einzelnen, sich anderen gegenüber abzugrenzen (Selbstscham). So gesehen beugt die Körperscham auch sexuellem Missbrauch vor. Eltern sollten sich dessen bewusst sein und ihre Kinder bei der Entwicklung eines gesunden Schamgefühls unterstützen. Das bedeutet Töchtern wie Söhnen die eigenen Grenzen und die der anderen - liebevoll, nicht herabsetzend - klar zu machen.
Quelle: BzgA (Hrsg.): Studie Kindliche Körperscham und familiale Schamregeln. BzgA Köln 2002.