Wenn Papa abends nach Hause kommt, dreht Julia noch einmal richtig auf. Kaum ist die Tür ins Schloss gefallen, schleppt sie ihr komplettes Tagwerk herbei. Zwischen Knetmännchen und kaputtem Feuerwehrauto wird Wiedersehen gefeiert. Die Arme fest um Papas Hals geschlungen, flüstert sie etwas von Bonbons - und prompt holt Papa eines aus der Hosentasche. Was er nicht wissen kann: Schon seit Stunden liegt Julia ihrer Mutter in den Ohren und will "was Süßes" - hier einen Keks, da ein Eis und noch ein allerletztes Stück Schokolade. Dann kommt Papa nach Hause - und alles Reden über Löcher in den Zähnen war umsonst. "Ach, lass sie doch", sagt der gerührte Vater nur, und seiner Frau platzt jetzt der Kragen.
Missverständnisse, Gedankenlosigkeiten und Meinungsverschiedenheiten sind zwischen Eltern so normal wie zwischen anderen Menschen auch: Mahlzeiten und Manieren, Süßigkeitenkonsum, Fernsehdosis und Schlafenszeiten - im Erziehungsalltag sind viele Zankäpfel versteckt, über die Eltern streiten können. Von der Frage, wie Eltern mit ihrer Unterschiedlichkeit umgehen können, hängt einiges ab. Herauszufinden, was uns einigt und was uns trennt, kann ein erster Schritt sein, den Unterschieden mit Gelassenheit, Taktgefühl, Humor und Zuversicht zu begegnen.
Streit ist manchmal notwendig und bringt oft Gewinn - wenn er fair geführt wird. Eltern sind gezwungen, für ihre unterschiedlichen Vorstellungen Lösungen zu finden. Mutter und Vater müssen ihre Ansichten verteidigen, wenn sie sich selbst treu bleiben wollen, auch vor den Kindern: Die erleben den Streit dann als ärgerliche Störung, aber nicht als Gefahr für den Familienfrieden. Die Kunst ist es, solche Auseinandersetzungen produktiv zu nutzen und sich gegenseitig als Ergänzung und nicht als Bedrohung zu verstehen - dann kann das Gemeinschaftsgefühl nur wachsen.
Herausfinden, worum es eigentlich geht
Oft geht es nämlich gar nicht um Erziehungsfragen, wenn Eltern ihre Kinder verschieden erziehen, sondern um die schlichte Tatsache, dass jeder woanders steht: Je mehr sich der Alltag des Vaters von dem der Mutter unterscheidet, desto größer wird mit den Jahren die Gefahr der gegenseitigen Entfremdung. Und umso leichter kommt es zu Missverständnissen und Meinungsverschiedenheiten in Erziehungs-, Haushalts- und Familienfragen. Unterschiedliche Erwartungen, verschiedene Einschätzungen der Hausarbeit, ungleiche Arbeitsplätze und Kommunikationsstile können sich als Fliehkräfte des Familienlebens entpuppen. Dann gilt es, die familiäre Rollenverteilung zu hinterfragen, versteckte Unzufriedenheiten aufzudecken und sich zu überlegen, welche Dinge sich zukünftig anders organisieren lassen. Hinzu kommt, dass viele Eltern Streit als etwas sehr Negatives empfinden. Sie setzen sich zusätzlich unter Druck, wenn sie glauben, sie müssten sich immer einig sein. Das geht meistens sowieso schief: Kinder erkennen blitzartig, wenn nach außen Friede und Einigkeit gemimt wird, obwohl dem gar nicht so ist.
Nähe und Distanz zum Familienleben
Die übliche Aufteilung in einen nachgiebigen und einen strengen Part kennt viele Spielarten: "Das Kind muss lernen, dass …" hört man oft von Vätern, die ihre Ideale durchsetzen wollen. Mütter sind zu nachgiebig, finden sie, und halten es für besser, schon früh klare Grenzen zu ziehen. Hehre Erziehungsprinzipien können Väter sich auch eher leisten, weil es in der Regel die Mütter sind, die diese Vorgaben im Alltag durchsetzen müssen. Mütter haben auch ihre Regeln und Grundsätze, doch sie reagieren stärker auf die konkrete Situation und das Kind, um das es gerade geht. Wenn ein Konflikt hoch kocht, bemühen sich Mütter eher darum, die Situation zu entspannen und eine Lösung zu finden, die allen Beteiligten nutzt. Dafür sind sie auch bereit, von ihren Prinzipien abzuweichen.
In den meisten Familien sind die Mütter für die tausend kleinen Dinge des Alltags zuständig - kein Wunder, dass sie zu Pragmatismus neigen. Wo sie den größten Teil des Alltags stemmen, kommt es häufiger zu Meinungsverschiedenheiten als in Familien, wo Mütter und Väter zu gleichen Teilen mit Kind und Beruf befasst sind. Vollzeitmütter finden oft, dass der Partner ihre Erziehungsanstrengungen unterläuft, wenn er abends oder am Wochenende mühsam ausgehandelte Regeln nach seinem Geschmack ändert. Dabei fühlt sich dieser Vater vielleicht nur fremd und ausgeschlossen, von Frau und Kindern abgelehnt und gerade noch als Brötchenverdiener geduldet?
Das Kind nicht in einen Konflikt hineinziehen
Schwierig wird es nur, wenn Eltern den Ärger mit dem Partner über das Kind austragen. Wenn Papa zum Beispiel Bonbons erlaubt, weil Mama sie verboten hat. Und dann noch eine Verschwörung anzettelt: "Aber nichts der Mama sagen, sonst schimpft sie wieder!" Solche verschobenen Konflikte belasten das Kind. Es ist überfordert, wenn es Partei ergreifen soll.
Wenn Sie irgendwann feststellen, dass Sie sich auffallend oft und erbittert mit ihrem Partner darüber streiten, was gut für das Kind ist und was nicht, dann schauen Sie doch mal genauer hin, ob es nicht vielleicht um etwas ganz anderes geht. Haben Sie vielleicht selbst das eine oder andere aneinander auszusetzen? Irgendwann schläft das Kind, und dann haben Sie eine stille Stunde, in der Sie darüber reden können, was Ihnen so gegen den Strich geht. Im Gespräch unter vier Augen kann es gelingen, die Meinung des zu akzeptieren und vielleicht sogar als interessante Bereicherung anzunehmen. Auch wenn es dabei manchmal hoch her geht: Im Streit gibt man sich gegenseitig die Möglichkeit, die Gefühle des anderen kennen zu lernen. Das Streiten über Kleinigkeiten führt unmittelbar zu prinzipiellen Dingen, aber es bringt auch Enttäuschung und Kummer an die Oberfläche, die vielleicht schon lange unterdrückt waren.
Wenn Sie Vertrauen in den anderen riskieren, lässt sich mancher Streit zum Guten wenden. Julias Eltern könnten die Situation retten, indem die Mutter sagt: "Also gut, noch das eine Bonbon, und dann putzt du dir die Zähne" Und während Julia am Waschbecken steht und schrubbt, könnte ihr Vater die Wogen glätten, indem er sagt: "Du hast ja recht, morgen werde ich dran denken." Sich auszutauschen, zu verhandeln und einen Kompromiss zu schließen, ist ein schönes Vorbild für kleine Leute, die gerade lernen, wie man miteinander streitet. Im vertrauten Familienklima, wo Geben und Nehmen ausgeglichen sind, können alle bei Auseinandersetzungen ihre Grenzen erproben und dabei etwas Wichtiges über sich selbst erfahren.
kizz Buchtipp
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Gerlinde Unverzagt, Mut zum eigenen Erziehungsstil. Populäre Erziehungsregeln auf dem Prüfstand. Verlag Herder 2009. 96 Seiten. 9,95 €