Gerade hat das Kind gelernt, Dinge vom Boden aufzuheben und in ein Gefäß zu legen. Immer und immer wiederholt es diese Tätigkeit. "Es spielt schön", sagen die Erwachsenen. Spielt es nur? Nein, es lernt, indem es wiederholt, mit großer Geduld und konzentrierter Kraft.
Ein paar Jahre später. Das Kind kann schon viel: laufen und sprechen und einer Geschichte zuhören, und vielleicht schafft es sogar schon, seine Schnürsenkel zu binden. Im Garten hat es entdeckt, dass es verschiedene Klänge hervorrufen kann, wenn es mit einem Stöckchen am Zaun entlang streicht. Es macht ihm Freude, diese Geräusche zu erzeugen - den ganzen Nachmittag könnte es so zubringen, völlig in sich versunken. Und nur die Stimme der Mutter beendet die Klang-Spielereien: Komm, genug gespielt...
Leben im Augenblick
"Kinder und Uhren dürfen nicht beständig aufgezogen werden, man muß sie auch gehen lassen", schrieb vor über 200 Jahren der Dichter und Pädagoge Jean Paul. Als hätte er den Trend unserer Zeit vorausgesehen: Wie schwer fällt es uns heute, ein Kind "gehen zu lassen". Die vielen Termine außer Haus! Und selbst wenn heute einmal kein Rhythmik-Unterricht oder Computer-Kurs ansteht: Wenn ein Kind nichts "Richtiges" tut, wenn es nach einer Regie spielt, die wir nicht verstehen, dann ist uns das unheimlich. Wir Erwachsenen sind es gewohnt, unseren Alltag effizient zu gestalten, uns ist das Produkt unserer Tätigkeit wichtig, nicht das Tun. Kindern im Vorschulalter ist das noch fremd. Sie leben im Augenblick, in ihrer momentanen Tätigkeit. Und sie benötigen Zeit, um sich in diesen Tätigkeiten zurecht zu finden: Jedes Kind braucht einen Raum der Ungestörtheit, um nach seinem eigenen Tempo zu leben, zu lernen, zu spielen und in sich zu ruhen.
Vanessa zum Beispiel. Die Vierjährige macht den Erzieherinnen Sorgen, denn seit einiger Zeit zieht sie sich aus dem Geschehen in der Kindergartengruppe zurück, sitzt gern allein in der Puppenecke, sieht sich Bilderbücher an oder träumt nur so vor sich hin. Auch die Eltern sind alarmiert. Was fehlt dem Kind? Sie ist doch eigentlich ganz und gar kein Einzelgänger...
Dem Kind fehlt Zeit. Und die nimmt sich Vanessa jetzt. Zu Hause gibt es seit drei Monaten einen kleinen Bruder. Der lässt ungestörte Kuschel-Stunden mit der Mama nur selten zu. Vanessa wird eingebunden in die Sorge um das Baby: Sie darf beim Wickeln die frische Windel reichen, den Bruder trösten, wenn er weint, ihm etwas vorsingen - das gefällt ihr und sie ist mächtig stolz darauf, dass sie gebraucht wird. Bei aller Freude über ihre neue Rolle als große Schwester und dem Wunsch, für das Brüderchen da zu sein, den Eltern zu zeigen, dass man auf sie bauen kann, mutet sie sich zu viel zu. Sie gibt mehr Kraft und Zeit als ihr gut tut. Darum sucht sie sich den nötigen Freiraum im Kindergarten.
Es fällt uns Eltern oft schwer, den Kindern nicht ständig vorzugeben, was sie tun sollen. Als das Kind noch ein Baby war, mussten wir versuchen, uns in das kleine Wesen einzufinden, seine Bedürfnisse zu erahnen, wir haben gelernt, uns das Empfinden des Kindes zu eigen zu machen. Und jetzt, im Kindergartenalter, sollen wir es plötzlich seine eigenen Wege gehen lassen? Ihm zugestehen, dass es selbst weiß, was ihm gut tut? Kein Wunder, dass uns das überfordert. Unser Kind braucht uns natürlich immer noch. Aber wie viel Zeit es für sich braucht, das weiß es am besten selbst. Uns Eltern verlangt das eine Menge Vertrauen in die gesunde und richtige Entwicklung des Kindes ab.
Anregung und Freiräume
Zeit - eine so wichtige Form der Lebensqualität. In Venedig gibt es kein Fortbewegungsmittel, das sehr viel schneller als die eigenen Füße wäre. Keine Autos, keine Eisenbahn. Die Gondeln schaukeln im Tempo des Fußgängers durch die Kanäle. Die touristische Welt liebt Venedig; scharenweise fallen die Nicht-Venezianer in die Lagunenstadt ein, genießen die Zeit und Muße, die sie hier finden. Denn Zeit ist kostbar, nicht nur für gewinnbringende Projekte. Sondern um uns nicht zu verlieren. Zeit für uns selbst, in der wir uns auf uns konzentrieren, die Seele baumeln lasssen, wie es Erich Kästner so treffend formuliert hat.
Das heißt nicht, dass die Umgebung anregungsarm sein sollte. Ein fröhliches, turbulentes Familienleben, in dem die Aktivitäten durcheinanderpurzeln, schadet sicher keinem ausgeglichenen Kind. Wir Eltern müssen nur, wie so oft, mit dem Herzen und dem Verstand unser Kind beobachten: Zeigt es sich überfordert von so viel Familienenergie? Schläft es unruhig? Träumt es schlecht? Wirkt es gehetzt und nervös? Dann ist es Zeit, für Freiräume zu sorgen. Vielleicht ein paar Mal den Blockflöten-Kurs ausfallen zu lassen, vielleicht den Bastelnachmittag oder die Turngruppe zu ersetzen durch ein paar Stunden, die das Kind ganz für sich allein hat. Solche Zeiträume braucht das Kind, um sich nicht zu verlieren in den vielen Aktivitäten, in denen es lebt. Es muss Muße haben zum Quatsch machen, zum Spielen oder um einfach nur dazusitzen und im Muster der Vorhänge Landschaften und Gesichter zu fantasieren. Denn Fantasie und Kreativität können sich nur ausbilden, wenn das Kind die Möglichkeit hat, in sich zu ruhen. Dazu braucht es Zeit - und Raum, um sich zurückzuziehen, unbeobachtet von den Erwachsenen und ungestört in seiner Erlebniswelt.
Langeweile: der Motor für die Fantasie
Manchen Kindern allerdings scheint ihre freie Zeit nicht ganz geheuer zu sein. Sie haben es nicht gelernt, sie zu nutzen und zu genießen: "Mama, mir ist so langweilig ...". Und die besorgte Mama springt herbei, schlägt diese und jene Aktivität vor, schleppt Stifte und Papier an, telefoniert die Freunde herbei. Wie soll ein Kind, dem jederzeit ein solches Unterhaltungsprogramm zur Verfügung steht, jemals lernen können, mit sich allein zurecht zu kommen, seine Zeit selbstbestimmt zu nutzen!
Langeweile darf sein, jedes Kind ist in der Lage, sie auszuhalten. Und schon bald wird mitten aus der Langeweile heraus eine Idee entstehen und aus dieser Idee eine Beschäftigung, in der das Kind Raum und Zeit vergisst. In diesem Moment hat es die Erfahrung gemacht, dass unverplante Zeit glücklich machen kann.