Niklas liegt abends im Bett und schiebt sich ein Bonbon in den Mund. "Du sollst doch nach dem Zähneputzen nichts Süßes mehr essen", mahnt seine Mutter ärgerlich, "du weißt doch, dass du davon schlechte Zähne kriegst". Niklas nimmt das zur Kenntnis - und lutscht weiter. Er weiß, dass seine Mutter sich zu mehr als einem ärgerlichen Unterton heute Abend nicht mehr aufraffen wird. Kopfschüttelnd verlässt sie nach dem Gutenachtkuss sein Zimmer.
Für Eltern, die außer der Erziehung ihrer Kinder noch etwas anderes zu tun haben - also für alle Eltern - ist die Versuchung groß, einem sich anbahnenden Konflikt aus dem Weg zu gehen. Manchmal drückt man eben beide Augen zu, seufzt und schluckt seinen Ärger hinunter, um nicht schon wieder das auf ein Nein! folgende Protestgeschrei oder die Tränenflut ertragen zu müssen. Oft hängt es von der Situation und der Tagesform ab, wie Konsequenz im Elternalltag wirklich gelebt wird. Hat man gute Laune, freut man sich über das glücklich spielende Kind mitten auf dem Teppich. Ist man müde, erschöpft oder abgelenkt, schimpft man eher los, weil es im Kinderzimmer schon wieder aussieht, als habe eine Bombe eingeschlagen. Nach einem langen anstrengenden Arbeitstag hat das Kind gute Chancen, Bonbons abzustauben oder Zeichentrickfilme im Fernsehen anzuschauen. Ist das Nervenkostüm dagegen in gutem Zustand, fühlt man sich auch den Auseinandersetzungen um Süßigkeiten, Fernsehzeiten, Schlafgewohnheiten und außergewöhnliche Speisewünsche eher gewachsen. Denn ein Nein! mit freundlicher Festigkeit zu vertreten und notfalls zehnmal geduldig zu wiederholen, kostet zweifellos Kraft.
Grenzen schaffen Spielraum - für Kinder und Eltern
Kinder provozieren, damit Eltern reagieren - mal so, mal so und dann wieder ganz anders. Und das ist meistens verkehrt. Denn auf diese Weise geben Eltern nur ihre eigene Unsicherheit an die Kinder weiter. Statt Halt zu geben, vermitteln sie ihnen den Eindruck, dass sie selbst nicht mehr durchblicken. Dabei brauchen Kinder das Gefühl, dass ihre Eltern wissen, wo es langgeht. Ob die Kinder nun im Elternbett schlafen, Wasserschlachten veranstalten oder als Teenager spätabends nach Hause kommen: Es gibt für Eltern immer gute Gründe - auch im Hinblick auf die eigenen Energiereserven und aus Selbstschutz - den Kindern etwas zu erlauben oder zu verbieten.
Doch die Wechselbäder tun Kindern nicht gut. Was heute gerade noch so durchgeht, darf nicht morgen eine Lawine von Vorwürfen auslösen. Kinder schließen daraus: "Egal, wie ich mich verhalte, ich kann die Reaktion sowieso nicht vorhersehen." Nicht beinharte Strenge, dann wieder achselzuckendes Gewährenlassen, sondern Zuverlässigkeit ist gefragt. Ernsthaft verboten und wirklich erlaubt - erst das ist eine klare Sache: Kinder wollen wissen, woran sie sind. Dann brauchen sie ihren Freiraum auch nicht täglich oder sogar stündlich neu zu vermessen.
Grenzenlosigkeit vernachlässigt Kinder
Kinder sind manchmal wirklich ungezogen und tun Dinge, die Eltern nicht durchgehen lassen können. Sie ärgern ihre jüngeren Geschwister, essen anderen Kindern ihre Süßigkeiten weg oder halten sich einfach nicht an Abmachungen. Dem Verhalten eines kleinen Kindes Grenzen zu setzen, fällt Eltern jedoch oft schwer. Auf das wie kommt es an: Liebevoll, zugewandt und dennoch fest ausgesprochen, dienen Grenzen der Orientierung und schaffen Geborgenheit. Viele Eltern spüren, dass grenzenloses Gewährenlassen eine andere Art von Vernachlässigung ist - und mehr noch: dass es die soliden Grenzen sind, die Halt vermitteln und Freiräume eröffnen. Wie beim Hausbau auch schaffen erst die Wände den Raum. Manche sind besorgt, dass sie die Liebe ihrer Kinder verlieren könnten, wenn sie ihr Verhalten beschränken. Das Gegenteil ist der Fall: Eine liebevolle, sorgende Umgebung muss nicht regellos sein. Je mehr Grenzen und Regeln Zuverlässigkeit bieten, umso besser halten Kinder ihren Krisen stand. Denn Grenzen sind ja nicht nur einengende Gitterstäbe, sondern auch Schutzgitter, die Geborgenheit vermitteln. Natürlich übersteigen Kinder manchmal auch diese Zäune, aber das ist dann auch eine ganz wichtige Erfahrung: bewusst das Verbotene zu riskieren. Das muss auch mal sein. Aber danach brauchen Kinder auch wieder die Möglichkeit, sich in ihren gesicherten Bereich zurückzuziehen, in dem Erlaubtes und Verbotenes klar voneinander getrennt sind.
Familienregeln sind der kleinste gemeinsame Nenner
In jedem Zusammenleben muss es Regeln geben, an die sich alle halten. Wie Grenzen gewahrt werden, kann ein Kind am besten von seinen Eltern lernen: Mama schläft jetzt, da darf sie nicht gestört werden. Papa telefoniert gerade, so lange wollen wir ihn in Ruhe lassen. Solche Erfahrungen können Kinder stärken, weil sie die Reibungspunkte im Alltag vermindern und den schönen Gedanken verbreiten helfen, dass jedes Familienmitglied Achtung und Respekt verdient. Familienregeln sind der kleinste gemeinsame Nenner. Eltern dürfen sie nicht den Kindern einseitig aufzwingen, sondern müssen sich selbst daran halten. So ganz nebenbei erleben die Kinder einen wichtigen Grundsatz der Demokratie: Autoritätspersonen dürfen schwächere Mitglieder der Gesellschaft nicht zu sozialem Verhalten zwingen, sondern man erreicht es mittels einer Übereinkunft innerhalb der Gemeinschaft - an die sich alle halten müssen.
Auch Eltern haben Grenzen
Eltern, die immer nachgeben, die jeden Ärger hinunterschlucken oder hilflos auf jede Forderung reagieren, jedes Verbot als zarte Bitte formulieren und resignieren, wenn ihre Wünsche von ihrem Kind übergangen werden, tun sich selbst keinen Gefallen. Für Mütter und Väter ist es vielmehr wichtig, die eigenen Grenzen zu kennen und zu schützen, weil sie nur so früh genug spüren, was ihre Geduld, ihre Kraft und ihr Verständnis übersteigt. Die allermeisten Eltern wissen genau, wo ihre eigene, ganz persönliche Belastungsgrenze verläuft. Dazu können sie auch stehen! Gibt man immer zu viel, führt das nämlich leicht dazu, dass einem schließlich die Hand ausrutscht, weil man sich ausgenutzt und missachtet fühlt.
Viel häufiger als wir wahrhaben wollen, liegen die Gründe für unsere Ausraster nicht bei denen, die wir anschreien, sondern bei uns selbst. Das Maß ist meist schon gehörig voll, bevor wir es mit einem widerspenstigen Kind zu tun kriegen. Und dann genügt eine Kleinigkeit, um das Fass zum Überlaufen zu bringen. Wirklich ändern kann sich erst etwas, wenn man genau hinschaut - auch wenn es wehtut, den eigenen Beitrag an der Situation zu erkennen. Lassen Sie die kritischen Szenen noch einmal an Ihrem inneren Auge vorüberziehen. So werden Sie herausfinden, wo ihre wunden Punkte liegen und pfleglich mit ihnen umgehen können: Es ist in Ordnung, erschöpft zu sein, schlechte Laune zu haben, sich allein und überfordert zu fühlen. Es kommt darauf an, was Sie daraus machen. Gut für sich selbst sorgen zu können, ist eine wichtige Voraussetzung, um für andere sorgen zu können.