Vorlaut, frech, respektlos gegenüber Autoritäten und Regeln, so sehen viele Erwachsene die heutige Jugend. ErzieherInnen klagen über Kleine, die ständig außer Rand und Band sind, mit Schimpfwörtern um sich schmeißen oder beim kleinsten Anlass die Fäuste gebrauchen. Wörter wie "bitte" und "danke" scheinen sie nicht zu kennen. Lehrerinnen und Lehrer haben es mit Kindern zu tun, die ihren Müll ins Klassenzimmer werfen, freche Antworten geben, dazwischen rufen und auf Anweisungen nicht reagieren. Tatsächlich sind viele Kinder heute ungezogener als früher.
Gutes Benehmen ist das "Schmiermittel" unserer Gesellschaft
Folgt man dem Soziologen und Kulturphilosophen Norbert Elias, so ist gutes Benehmen das unerlässliche "Schmiermittel" zivilisierter Gesellschaften. Da wir unser Brot, unsere Kleidung, erst recht nicht Autos und Telefone selbst herstellen, sind wir Menschen immer mehr aufeinander angewiesen, sagt Elias. Dieser "Prozess der Zivilisation" zwingt uns zu rücksichtsvollem Verhalten. Um Konflikte friedlich zu lösen müssen wir einander höflich begegnen. Dazu gehört, dass wir lernten, spontane Bedürfnisse und Gefühlsäußerungen zu kontrollieren.
In den 50er und frühen 60er Jahren des 20. Jahrhunderts wurden Anstandsregeln einfach gepaukt, ihr Sinn und Zweck nicht hinterfragt. Unter dem Trauma der Nazizeit und des Krieges waren viele an der Tragödie beteiligte Länder in rigoroser "Anständigkeit" erstarrt. Vor allem in Deutschland wollte man unangreifbar sittsam sein, kam doch hier zu den Schrecken des Krieges noch die nicht bewältigte Schuld. In den 1960ern begann jedoch der Aufstand gegen verkrustete Sitten, die die Entfaltung des unterdrückten "Ich" behinderten. Autoritäten wurden in Frage gestellt und Konventionen abgelehnt. Es sollte alles beiseite geräumt werden, was den Zugang zum "wahren Selbst" verstellte. Das Individuum sollte sich seiner Bestimmung und seinen Wünschen nach frei entfalten.
Das Kind nimmt sich als Mittelpunkt der Welt wahr
Wie oft in der Geschichte wurde das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. In den letzten dreißig Jahren hat sich das Ziel der Revolte, die ungestörte Verwirklichung der Einzelpersönlichkeit, als oberste Richtschnur von Erziehung durchgesetzt. Verstärkt wird dies dadurch, dass unsere Gesellschaft inzwischen kinderarm zu werden droht. Jedes einzelne der immer selteneren Exemplare wird deshalb gehegt, gepflegt und gehätschelt. Nicht wenige Kinder gewinnen so den Eindruck, sie seien der Mittelpunkt des Weltgeschehens. Dass zum Leben auch Frustrationen, Schwierigkeiten und Schmerz gehören, scheint häufig ausgeklammert. Es ist aber unsere Pflicht, unsere Kinder zu lehren, wie sie mit Problemen fertig werden. Frustrationstoleranz und Durchhaltevermögen lernen heißt gutes Benehmen lernen. Max muss akzeptieren, dass die Erzieherin nicht nur auf ihn achten kann und Paul wird in der Schule ruhig und diszipliniert sein müssen, damit er und die anderen lernen können.
Kinder wollen Struktur, Ordnung und gutes Benehmen
Viele Kinder und Jugendliche haben Chaos und schlechtes Benehmen selbst satt, konnte man letztes Jahr in einem "Spiegel" - Artikel lesen. Sie leiden unter dem schlechten Betragen ihrer Altersgenossen. Es wird deshalb höchste Zeit für eine Kehrtwende, meint der Kinder- und Familienpsychologe Wolfgang Bergmann. "Kinder", sagt er, "können permanente Sanftmut und Nachgiebigkeit nicht ausstehen." "Eltern sollen streng sein", hätten ihm zahlreiche Kinder gesagt. Für die heutige Generation, so der Psychologe, haben Wörter wie "Strenge", "Disziplin" und "Strafe" nicht mehr den gleichen abschreckenden Klang wie früher. Im Gegenteil, Kinder sehnen sich danach, dass ihnen jemand hilft, Struktur und Ordnung in ihr Leben zu bringen. Sie alles aus sich entscheiden zu lassen heißt sie zu überfordern. "Kinder wollen ihre Eltern nicht nur lieben - sie wollen Respekt haben", behauptet Bergmann. Für ihre Erzieherinnen, Lehrerinnen und Lehrer gilt das genauso. Kinder wollen und brauchen Erwachsene, die den Mut haben, Regeln aufzustellen und diese auch durchzusetzen, gerade im zwischenmenschlichen Bereich. Das ist in unserer komplexen Welt heute mindestens so wichtig wie früher.