Ein Mann sitzt im Gerichtssaal, den Kopf gesenkt, er blickt auf seine Hände. Mit diesen Händen hat er sein Kind geschlagen, immer wieder, es blutig geprügelt, gestoßen - so lange, bis die Nachbarn das Jugendamt einschalteten. Warum er seinen Sohn misshandelt habe, will die Richterin wissen. "Weil er ständig gelogen hat." Der Sohn ist fünf Jahre alt.
Eine solche Szene erfüllt uns mit Abscheu. Wie kann ein Vater so etwas tun? Unverständlich ist uns heute, dass man das Verhalten eines kleinen Kindes so ahndet. Vorbei ist glücklicherweise die Zeit, zu der es gesellschaftsfähig war, Kindern Tugenden mit roher Gewalt einzustanzen, so lange, bis sie diese Tugenden als hohle Verhaltensregel verinnerlicht hatten. Noch bis in die 60er Jahre hinein hatten Kinder den Mund zu halten, wenn sie nicht gefragt wurden, durften Mädchen nicht wild sein, und was auf den Tisch kam, das wurde aufgegessen. Und wurde nicht gehorcht, dann folgten drakonische Strafen. Ende der 60er, mit der Neubesinnung auf gesellschaftliche Werte, stellten die jungen Eltern und Erzieher die hergebrachte Pädagogik in Frage. Fleiß, Pünktlichkeit, Ordnungsliebe... all das wirkte nun so verstaubt, so von gestern. Die freie Entfaltung der Kinder stand an oberster Stelle, Kinderläden, in denen die Kleinen selbstbestimmtes Handeln üben sollten, wuchsen aus dem Boden. Kritikfähigkeit und Renitenz waren nun wichtig geworden. Aber man nannte das nicht mehr Tugend. Sondern Erziehungsziel.
Der Generation der Kinderladen-Kinder entwuchsen freie, selbstbewusste Menschen, die gelernt hatten, sich sozial zu verhalten und sich dennoch durchzusetzen.
Was ist der richtige Weg?
Über 30 Jahre sind seitdem vergangen. Die Welt hat sich gewandelt. Viele Relikte sind aus der Kinderladen-Zeit übriggeblieben; das wichtigste davon: Wir nehmen unsere Kinder ernst. Akzeptieren sie als Gesprächspartner, gestehen ihnen ihren eigenen Kopf zu und versuchen, sie mit Argumenten statt mit Schlägen auf den Weg zu bringen, der uns als der richtige erscheint. Was für eine schwierige Aufgabe! Denn was der richtige Weg ist - wer weiß das schon? Ist es Durchsetzungskraft oder solidarisches Handeln? Ist es das Ansammeln von Reichtum oder das Abgeben an die Hungernden? Wie gern hätten wir Eltern insgeheim einen Verhaltenskodex, an dem wir unsere eigenen Ziele und den Lebensweg unserer Kinder orientieren könnten. Wir verlangen nach Werten, nach allgemein gültigen ethischen Richtlinien. Denn die Welt ist so unüberschaubar geworden, und das macht Angst. Was ist Gut und was Böse?
Die Religion beantwortet uns diese Frage eindeutig. Die Zehn Gebote weisen gläubigen Familien den Weg. Aber auch diese Gebote geben nur begrenzte Anleitung. Wären sie in unseren Tagen geschrieben worden, so hätte wohl der achtungsvolle Umgang mit unserer Natur und das Klonen menschlicher Zellen darin Erwähnung gefunden. Dennoch: In den zehn Thesen finden Christen Halt und Orientierung. Untersuchungen haben ergeben, dass Kinder aus gläubigen Familien später weniger anfällig für Alkohol und Drogen sind.
"Ich weiß nicht", sagt Frauke T., Mutter von drei Kindern, "im Glauben finde ich einfach keinen Halt. Religion - das war noch nie ein Thema für mich." Und sie sucht nach einem Lebensinhalt für sich und ihre Kinder. Nach den berühmten Werten, die sie selbst stützen und die sie weitergeben kann.
Kreativität: ein wichtiger Wert
Werte, Gebote, Tugenden verdanken ihre Entstehung immer den Notwendigkeiten und gesellschaftlichen Bedürfnissen. Pünktlichkeit, Fleiß, Bescheidenheit waren nötig, um in der Arbeitswelt zu bestehen. Die Rolle der Frau als dienender und untergeordneter Part einer Ehe verschaffte dem Mann den Freiraum und die Bequemlichkeit, die er sich wünschte. Das sind längst überholte gesellschaftliche Bedingungen - Zeit für eine Neubesinnung also.
Was brauchen wir heute, in der Arbeitswelt etwa? Pünktlichkeit und Fleiß sicher in gewissem Maße. Aber ist es nicht noch viel wichtiger geworden, kreativ zu sein, auch mal quer zu denken, Erfahrungen in möglichst vielen Bereichen zu sammeln? Ein moderner Wert ist also auf jeden Fall die Kreativität. Kinder, die in ein phantasievolles Umfeld hineinwachsen, haben eine große Chance, auch ihr berufliches Leben gut zu meistern.
Und im Zusammenleben? Toleranz dem für uns Fremden gegenüber, die Fähigkeit zur Freundschaft und der Mut, seine Meinung darzulegen gehören dazu. Der modernen, in vielen Bereichen geforderten Frau ist nicht mehr das "Dienen" auf den Leib geschrieben, sondern das Organisieren, das Managen ihrer Familie. Typische "Frauenwerte": Organisationstalent und Selbstständigkeit. Vieles ließe sich in dieser Reihe aufzählen an Werten, die das Leben einfacher machen.
Muss ein Kind heute Bescheidenheit lernen?
Und was ist mit den "inneren Werten", die so gar nicht effizient erscheinen? Bescheidenheit, Treue, Rücksicht, Höflichkeit ... Ist das alles noch zeitgemäß? Brauchen unsere Kinder solche Werte, wenn die Welt um sie herum doch aus Rücksichtslosigkeit und Raffgier zu bestehen scheint? Ist es nicht sogar kontraproduktiv, einem Kind heute Bescheidenheit beizubringen?
Es wäre in der Tat unsinnig, einem Kind Dinge nahezulegen, die es einsam und unglücklich in der Welt stehen ließen. Ein Kind, das heute noch lernen muss, nur zu sprechen, wenn es gefragt wird, wäre bald ein vereinsamtes Wesen, kontaktarm und scheu. Ein Kind jedoch, das lernt, andere aussprechen zu lassen und ihnen nicht mitten in den Satz zu fallen, hat keinen messbaren Nutzen davon, aber es wirkt auf andere sympathisch. Und ein sympathischer, freundlicher und positiv denkender Mensch meistert das Leben besser als der ewige Nörgler, der mit sich und der Welt im Clinch liegt.
Werte wie Höflichkeit und Rücksicht sind also längst nicht verstaubt; sie gehören auch zu unserem heutigen Leben. Nur: Wie schaffen wir es, sie unseren Kindern beizubringen? Durch ständiges Reden sicherlich nicht. Durch Gewalt, wie im Anfangsbeispiel, erst recht nicht. Kinder, die merken, dass ihnen etwas aufgezwungen werden soll, reagieren entweder mit Verweigerung oder fügen sich der Macht, mit innerem Groll. Werte, die wir unseren Kindern mitgeben wollen, dürfen nicht auf "kaltem Wege" vermittelt werden, sondern verlangen die Beteiligung unseres Herzens. Wer seinen Kindern die sozialen Spielregeln beibringen möchte, muss sie vorleben, im ganz normalen Alltag. Darf nicht verletzt oder enttäuscht sein, wenn das Kind erst langsam hineinwachsen muss in sein soziales Umfeld und sich manchmal so verhält, dass wir entsetzt sind. Denn so wie das Kind lernen musste zu laufen, zu sprechen und die Gummistiefel richtig herum anzuziehen, so muss es auch lernen, mit anderen Menschen zurecht zu kommen - durch unser Vorbild. Ein kleines Kind lügt noch nicht, es erzählt Geschichten aus seiner Fantasiewelt. Es stiehlt nicht, sondern nimmt sich, was es haben möchte. Es schlägt das andere nicht aus Gemeinheit, sondern weil es, wenn es noch sehr jung ist, noch gar nicht wissen kann, was Mitgefühl ist. Durch ein entschiedenes "Nein" können wir es daran hindern, anderen weh zu tun, aber ihm Mitgefühl beizubringen schaffen wir nicht durch Worte. Sondern indem wir ihm zeigen, wie wir selbst mit anderen Menschen umgehen.
Später, an der Schwelle zum Erwachsenenalter, wird das Kind uns in Frage stellen, wird mit uns diskutieren und vielleicht unsere Art zu leben in Grund und Boden verdammen. Doch das, was es als Kind mitbekommen hat, verliert es dadurch nicht. Ein liebevolles Elternhaus mit einer klaren Lebensorientierung hinterlässt deutliche Spuren.