Das Mädchen ist übel dran. Seine Stiefmutter liebt nur die eigenen Töchter und die Stiefschwestern machen sich bloß über sie lustig. Sie wird von allen ausgenutzt und bekommt auch vom Vater kaum Unterstützung. So lebt das Kind überfordert und ohne Liebe, isoliert in der eigenen Familie.
Geschichten aus einer anderen Zeit
Die Geschichte dieses armen Mädchens wandert seit Jahrhunderten durch die Generationen und über die Kontinente. Und auch heute noch beschäftigt das Schicksal von Aschenputtel (auf englisch heißt sie "Cinderella") Kinder auf der ganzen Welt. Ähnlich unsterblich sind Hänsel und Gretel, Rotkäppchen, Rapunzel, Rumpelstilzchen, Frau Holle, der Froschkönig und die sieben Raben. Ihre Geschichten werden von der Großmutter an die Mutter weitergegeben, von der Mutter an die Tochter, von der Tochter an die Enkelin, bis hin zu uns, ins Zeitalter von Handy und Internet.
Soll man den Kindern heute tatsächlich noch diese alten Märchen erzählen? Haben die Geschichten von damals den Kids von heute denn noch etwas zu sagen? Finden die Kinder des dritten Jahrtausend sich noch zurecht in einer Welt voller Asche und Linsen, Mühlen und Spinnrädern, Königshäusern und Küchenmägden?
Kinder erleben Märchen anders
Die Fragen sind berechtigt. Eine Zeitlang wurden Märchen von fortschrittlichen Eltern und Pädagogen verbannt und verurteilt. Märchen stammten aus einer überholten autoritären Zeit, hieß es, sie legten die Geschlechter auf überkommene Rollenbilder fest und seien für die zarten Kinderseelen viel zu grausam.
Diese Kritik ist aus der rationalen Sicht von Erwachsenen verständlich. Sie übersieht jedoch, dass Kinder ganz anders auf den Zauber der Märchen reagieren als Erwachsene. Märchen sind Geschichten voller Symbole, die Kinder sofort begreifen. Es wundert sie gar nicht, dass Wölfe sprechen, Tische sich von selbst decken und kleine Jungen sich in Rehe verwandeln. Diese wunderbaren Ereignisse entsprechen der Phantasie von Kindern, die die ganze Welt vom Tier bis zum Stein als belebte Wesen empfinden. Kinder lieben die Sprache der Märchen und ihre deutlichen Bilder. Die Hexe und der böse Wolf sind Symbole für das bedrohliche Böse und es tut den Kindern gut, wenn sie am Ende verbrannt oder ertränkt, also besiegt werden. Das ist in ihren Augen nicht grausam, sondern gerecht. Und es gibt ihnen die Gewissheit, dass auch schlimme und bedrohliche Situationen überwunden werden können.
Unterstützung auf dem Weg ins Leben
Die Geschichte von Hänsel und Gretel zum Beispiel befasst sich mit der Hauptangst aller kleinen Kinder, nämlich von den Eltern verlassen zu werden. Das Märchen beschreibt, wie man im Leben durch schwierige Phasen (die dunklen Wälder) hindurch muss, dass man sich verirren und in Fallen geraten kann, sich am Ende aber alles zum Guten wendet. Übrigens ist Gretel hier durchaus nicht das passive Mädchen, sondern das Kind, das die Situation rettet. Auch "Rotkäppchen" thematisiert die Ablösung des Kindes von den Eltern und die Irrwege auf dem Weg des Heranwachsens. Die Goldmarie aus dem Märchen "Frau Holle" zeigt, dass man mit Liebe und Hilfsbereitschaft gut durchs Leben kommt, während ihre Schwester, die immer nur den eigenen Vorteil sucht, lebenslanges Pech erntet. Und unser Aschenputtel ist wohl deshalb so beliebt, weil viele Kinder sich auch isoliert und ungerecht behandelt fühlen. "Aschenputtel" zeigt ihnen diesen Schmerz in verschärfter Form und hilft ihnen, sich selbst zu verstehen. Am Ende, so zeigt der Verlauf des Märchens, wirst du einen Weg aus dem Elend finden und den Platz erhalten, der dir gebührt.
Ungefähr im vierten Lebensjahr sind Kinder so weit, dass sie Märchen verarbeiten können. Manchmal ahnt man sogar, warum ein Kind ein bestimmtes Lieblingsmärchen hat, zum Beispiel weil es mit der Loslösung von den Eltern kämpft oder mit seiner Geschwisterrolle. Aber das sollte man dem Kind besser nicht sagen, um es nicht bloßzustellen.
Zeit für eine Märchenstunde
Am besten setzt man sich ruhig und gemütlich mit dem Kind zusammen und liest ein Märchen mehrmals vor. In jedem Fall reicht ein Märchen am Abend aus, mehr kann ein Kind kaum verarbeiten. Wer Märchen gut kennt, kann sie dem Kind auch in seinen eigenen Worten erzählen. Wenn das Kind Fragen zu dem Märchen stellt, sollte man diese nicht gleich beantworten, sondern gemeinsam mit dem Kind nach Antworten suchen. Wenn ein Märchen das Kind ängstigt, sollten wir ihm unbedingt die Gelegenheit geben, über seine Ängste zu sprechen.
Bei so einer Märchenstunde spüren dann manchmal auch die Erwachsenen die gute Botschaft der Geschichten. Denn eines scheinen uns alle Märchen zu sagen: So schwer uns das Leben auch manchmal erschient, es lohnt sich, einen Ausweg zu suchen. Gute Kräfte werden uns zur Hilfe kommen. Und am Ende wird alles gut.