Größe, Ausstattung und Nutzung: Die räumlichen Voraussetzungen von Kitas und Tagespflegestellen unterscheiden sich deutlich voneinander. Selbst innerhalb dieser beiden Angebotsformen gibt es erhebliche Unterschiede, da ihre zahlreichen Varianten ganz bewusst unterschiedliche Umwelten anbieten: Kleinkinder werden in Großtagespflegestellen oder Privathaushalten, Krippen, Waldkindergärten und Kitas, teilweise mit dominierender „Vier-Ecken-Pädagogik“ (Bauecke, Rollenspielecke etc.) betreut – zunehmend aber auch in mitwachsenden Lernwerkstätten der Offenen Arbeit. Entsprechend unterscheiden sich auch die jeweiligen Raumerfahrungen der Mädchen und Jungen voneinander.
Wie Kleinstkinder Räume wahrnehmen und für ihre Bildung nutzen, wird von der Entwicklungsforschung intensiv untersucht; das hat in den letzten Jahren zu zahlreichen Schlussfolgerungen bezüglich der Raumqualität in allen Formen der frühen Betreuungs- und Bildungsstätten geführt. Viele Studienergebnisse zeigen, dass Raumgestaltung und -ausstattung sowie die freie Verfügbarkeit von Räumen einen wesentlichen Anteil an nachhaltigen frühkindlichen Bildungsbemühungen haben. Immer mehr Forscher vertreten deshalb die These, dass die „Nutzbarkeit“ der Räume, ihre Ausstattung und ihr Anregungsgehalt immer wieder an die aktuellen Fragen und Interessen der Kinder angepasst werden müssen. Damit deren Gestaltung allen Kindern Wahl-, Handlungs-, und Bildungsmöglichkeiten eröffnet (van Dieken / van Dieken 2013), müssen Räume also wandelbar sein, nur so können sie differenziert genutzt werden – eine Erkenntnis, welche die Einführung der Lernwerkstätten zur Folge hatte: Durch sie sollen dem (professionell begleiteten) Gestaltungswunsch der Kinder Rechnung getragen und ihnen Material und Werkzeug zur Verfügung gestellt werden, die ihren aktuellen Bildungsbedürfnissen wirklich entsprechen. Damit unterscheiden sich Lernwerkstätten deutlich von den bis vor einigen Jahren dominierenden Funktionsräumen, deren Bestimmung auch in der Offenen Arbeit allein von den Erwachsenen vorgegeben wurde. Durch dieses Vorgehen wurde suggeriert, dass der Raum eine festgelegte Lern- und Bildungsfunktion habe.
Eigenwillige Raumnutzung
Wenn die Expertin für Krippenpädagogik Dorothee Gutknecht (2016) von der Responsivität des Raumes spricht und diese für eine wichtige Anforderung an pädagogische Settings hält, muss hierunter zweierlei verstanden werden: seine direkte Veränderbarkeit und Umgestaltung durch die Kinder wie auch die Kindergruppe selbst als sozialer Ort der Raumerfahrung und -aneignung. Aus Beobachtungen in Kitas und Krippen lässt sich schließen, dass sich Kleinkinder durch die eigenwillige Nutzung des Raumes und seiner Materialien darüber bewusst werden, dass sie (Nutzungs-)Spuren hinterlassen und sich als selbstwirksam erfahren. Nicht nur deshalb müssen Bildungsräume für Kleinstkinder so gestaltet und ausgestattet sein, dass sie von den Kindern selbstständig und individuell in Beschlag genommen werden können (von der Beek 2006). Ob es bei diesen aktiven Raumeroberungen um Erkundungsdrang und/oder Bewegungsfreude geht, ist oft schwer einzuschätzen; eindeutig ist hingegen, dass Kinder immer unterwegs sind, um ihren Sinneshunger zu stillen, ihren Aktionsradius zu vergrößern, ihre feinmotorischen Möglichkeiten auszubauen und immer mehr zu verstehen. Bei seinen räumlich-gegenständlichen Umwelterkundungen stellt das Kind aktiv Beziehungen zwischen sich selbst und seiner Umgebung her. Es erschließt sich ein Bild seiner nahen Umgebung, indem es sie visuell abtastet, mit dem Mund erkundet, berührt, untersucht und hinhört. Sein Handling über alle sensomotorischen Kanäle wird dabei immer differenzierter. Hierzu gehören bereits Erfahrungen zu Oberflächenstrukturen und Formunterschieden, taktile Erlebnisse ebenso wie auditive und visuelle Eindrücke, die zu immer vielfältigeren Vorstellungen über seine Umwelt beitragen. Besonders geeignet sind hier Angebote, die mehrere Sinne gleichzeitig ansprechen, wie z.B. eine Stoffkiste, in der sich Reste von Seide, Sackleinen, Baumwolle, Strickware und Wachstuch befinden. Neben ihren visuellen Variationen präsentieren diese auch haptische Unterschiede, was „Fühlsensationen“ auslöst.
Die richtige Balance
Wie Kleinstkinder Räume erleben, ist bedeutsam für ihre eigene Verortung. Bestenfalls empfinden sie in diesen eine Balance zwischen „Das kenne ich schon, es ist mir vertraut“ und „Das ist mir noch nie begegnet, es ist neu, sogar aufregend für mich“. Laut zahlreichen Studien sollten Räume Kindern in jedem Fall Erfahrungsvielfalt ermöglichen. Davon hängt nicht zuletzt ab, ob Kinder zu spannender, vertiefter Beschäftigung angeregt werden – oder ob sie sich schnell langweilen (Bodenburg 2016b). Manche Kinder interessieren sich z. B. besonders für die sog. kleinen Räume, wie etwa einen leergeräumten Schrank oder eine eingebaute Bodenwanne. Nicht zuletzt bei Pflege- und Ernährungsaspekten spielen Mobiliar und Ausstattung eine wichtige Rolle: Eine klug durchdachte und sensibel gestaltete Assistenz im Sinne der responsiven Pflege unterstützt Kinder dabei, selbstständig zu essen und zu trinken, u. a. durch eine professionelle Auswahl ihrer Sitzmöglichkeiten und des Geschirr- und Besteckangebotes (Gutknecht et al. 2017).
Buffet der Möglichkeiten
Räume sind pädagogisch wirksame Orte. Professionell gestaltete Räume in Kita und Tagespflege sind deshalb wohl arrangierte und immer gemäß der beobachteten kindlichen Fragestellungen und Themen aktualisierte visuelle Buffets: Eine überschaubare Auswahl an Alltagsmaterialien unterschiedlicher Größe, Handhabbarkeit und Haptik ist jederzeit erreichbar im Raum bzw. in Regalen verteilt, schon bevor das erste Kind am Morgen da ist. „Angespielte“ Räume begeistern, erinnern die Mädchen und Jungen bestenfalls an ihre Erlebnisse von gestern. Sandspielbereiche am Boden haben sich bewährt, mit unterschiedlichen Gefäßen zum Füllen und Schütten. Selbstzerrissenes Zeitungspapier, Korken, Holzwolle, Stroh in Wannen oder Kartons bieten Tast- und Fühlsensationen ebenso wie Bohnen-, Reis-, Nudel- oder Kastanienbäder. Topfkratzer und Luftballons (gefüllt mit Erbsen, Mehl und Sand) ermöglichen Fühlabenteuer. Bauklötze aus Stein, Holz, Schaumstoff und Karton bieten positive Irritationen, an die es sich zu erinnern lohnt. Zwischen solchen Materialien selbstständig wählen zu können, ist für Kleinkinder besonders wichtig, denn oft können sie nach besonders begehrten Objekten noch gar nicht fragen. Der Pädagoge Gerhard Regel bezeichnet Räume entsprechend als „Geschenk an die Kinder“. Sich frei für Spielaktivitäten entscheiden zu können, entspricht den Lernzugängen von unter Dreijährigen. Spielorte, Materialien, Werkzeuge, gleichaltrige und gleichgeschlechtliche Mitspieler und Mitdenker und, wenn vorhanden, auch ältere Kin der und erwachsene Spezialisten selbst auswählen zu können, ermöglicht es den Kindern, an ihrem aktuellen Thema weiterzuarbeiten. Dabei bilden Bewegung und Spiel anfangs eine Einheit – das ist zu beobachten, wenn etwa Krabbler, Sich-Hochzieher oder An-der-Hand-Geher nach jeweils neuen Herausforderungen, nach der Zone der nächstmöglichen Entwicklung suchen. Vielfältige, fordernde Werkstatt- (t)räume lassen sich auch für die Jüngsten verwirklichen (Tielemann 2015). Sie sollten primär fein- und grobmotorische Bewegungs- und Erfahrungsräume sein, mit viel Platz für „Höhen und Gefälle, Podeste, Kriechtunnel, Rutsche, Bogenleiter, Schaukelboot, Spielgitter, Krabbel- und Rutschbrett, dicke Matten und Sprossenwand“ (Regel / Netzwerk 2014, S. 11). Je mobiler die Bewegungsgeräte sind, desto eher können sie individuell mitwachsen.
Aufmerksame Begleitung
Doch der Raum und sein Aktionspotenzial sind es nicht allein, die auf das Kind ansprechend wirken, er ist kein Selbstläufer. Zumindest eine vertraute Person sollte aufmerksam und in der Nähe sein, damit das Kind seine Raumerfahrungen mit ihr teilen kann. Bodenburg (2016 a) spricht zu Recht von „bewegenden Erkundungstouren“, es geht hier um „Sicherungsseile“: Die Bezugsperson sollte während der kindlichen Raumeroberung jederzeit erreichbar, verfügbar und ihre Reaktionen voraussagbar sein. In der Verantwortung der Fachkraft liegt es nicht zuletzt, „die Fülle der Gestaltungsmöglichkeiten aus der Zone der Beliebigkeit“ zu holen und die richtigen Schwerpunkte zu setzen (Pape et al. 2005). Für eine entsprechende Sensibilisierung und Qualifizierung von Leitungen und Fachkräften für die Bedeutung von Bildungsraummerkmalen (wissenschaftlich begründete Standards für die Kindertagesbetreuung) sind Beratungen und spezielle Fortbildungen für Kitas und Tagespflegestellen unabdingbar (Bensel et al. 2015). Professionelle Beobachtung und Dokumentation von aktuellen Bildungsbestrebungen und individuellen Interessen jedes Kindes und deren Auswertung gelten in der Pädagogik heute als wesentliche Voraussetzungen einer individuellen Bildungsbegleitung und responsiven Gestaltung von Lernumgebungen. Beobachtungen bei laufendem Betrieb zeigen, dass pädagogische Fachkräfte zu Veränderung und Neuanpassung von Raum und Material motiviert werden, sobald sie mit den Kindern in den Räumen leben und mit deren Möglichkeiten spielen, um den aktuellen Themen der Kinder vielfältiges Futter zu geben. Was interessiert ein Kind? Was hat es sich vorgenommen, welchen Plan verfolgt es? Fachkräfte in Kitas und Tagespflege müssen „genügend unverplante Zeit zur Verfügung haben, um Kinder in ihrem Tun zu beobachten, ihnen in Ruhe zuzuhören und mit ihnen gemeinsam an ihren Ideen zu arbeiten, wenn sie (…) ihr Bedürfnis dazu signalisieren“ (Henneberg / Klein 2010, S. 32). Es Dr. rer. nat. habil. Gabriele Haug-Schnabel Leiterin der FVM, seit 25 Jahren in der Lehre tätig (z. Zt. EH Freiburg bzw. Universität Salzburg), Forschung zur kindlichen Entwicklung, Professionalisierung von Kindertageseinrichtungen. entsteht eine „Forscherbeziehung“, wenn es im „dialogischen Dreieck“ zwischen einem Kind, einem Erwachsenen und einer Sache um etwas geht, das diese zwei Interessierten gemeinsam anschauen, untersuchen und besprechen. Die Aktivität geht vom Kind aus. Pädagogische Fachkraft und Kind „geraten in Resonanz“, was die Fachkraft auf das „Anliegen des Kindes mit Neugier, Interesse und Begeisterung reagieren lässt“ – der Zustand des „Mitschwingen-Wollens“ wird körperlich und sprachlich spürbar (ebd., S. 32f.). Immer geht es darum, das Kind als Experten für seine Bedürfnisse wahrzunehmen. Die pädagogische Fachkraft „muss sich selbst als Forschungsassistentin verstehen, die sich von den Kindern einladen, ermutigen und inspirieren lässt, als Weltentdecker den Alltag zu gestalten“ (ebd., S. 16).
So viel Raumqualität muss sein
- Höhlen und Verstecke (z. B. große Kartons), Ruheinseln und Kuschelecken mit Decken, Kissen und gedämpftem Licht, die als Rückzugsräume, wenn nicht sogar als kurzzeitiger Schlafort dienen und vom Kind autonom aufgesucht werden können;
- Orte, die zum Träumen einladen (lassen sich gut mit individuellen Schlafplätzen kombinieren);
- Klettermöglichkeiten, verschiedene Ebenen, Podeste, Rennstrecken (z. B. in Fluren), fahrbare Untersätze unterschiedlichster Art zur Körperwahrnehmung und Raumerfahrung;
- Schaukeln, Hängematten, Hängesessel;
- Spiegel, um sich zu betrachten und wiederzuerkennen;
- Tücher und Hüte, um darin und darunter zu verschwinden;
- Matsch- und Planschbecken, Sandbecken, große Malflächen;
- Waschräume, die mehr als Hygiene bieten, z. B. Wasserspiele ermöglichen und sich zum Forschen und Malen eignen;
- Wickelplätze, die zum Verweilen einladen, zum Entdecken des eigenen Körpers, zur Kommunikation;
- Anregungen und Gelegenheiten, um der kindlichen Lust am Schütten und Verteilen, Ein- und Auswickeln, Reißen und Zusammenfügen nachgehen zu können;
- Kisten, Dosen und Kästen zum variationsreichen Auf- und Zumachen;
- Bequeme Erzähl- und Vorleseecken mit angenehmem Licht;
- Essplätze zum „Mitwachsen“, an denen junge Kinder gerne sitzen, sich selbst versorgen und sich unterhalten. (