PraxisberichtDas hochsensible Kind verstehen

Vor vier Jahren kam Lukas, ein hochsensibles Kind, in die städtische Kita Heilmeyersteige in Ulm. Anne-Cathrine Grözinger, Leiterin der Einrichtung, erzählt, wie sie und ihr Team den Jungen begleitet haben.

Das hochsensible Kind verstehen
© Harald Neumann

Als Lukas zu uns kam, war er 2;3 Jahre alt. In den ersten Tagen erkundete er neugierig die Kita. Für andere Kinder interessierte er sich besonders und zeigte erstaunliches Einfühlungsvermögen gegenüber verschiedensten Stimmungen. Weinte ein Kind, reagierte er prompt mit einem „Oh“ und wollte genau wissen, was geschehen war. Die Eingewöhnung war rasch abgeschlossen, Lukas fühlte sich sehr wohl bei uns. Früh erkannten wir, dass der Junge starke, ausgeprägte Persönlichkeitsmerkmale wie Willensstärke, Sturheit und Temperament mit sich brachte. Diese zeigten sich meist in Situationen, die nicht seinen Vorstellungen entsprachen oder in denen sein Gegenüber nicht das erfüllte, was er von ihm erwartete. Zunächst hielten wir dieses Verhalten für einen normalen Entwicklungsschritt innerhalb der Autonomiephase.
In verschiedenen alltäglichen Abläufen und Situationen reagierte Lukas jedoch mit ausgeprägten Wutanfällen und körperlichen Übergriffen gegenüber anderen. Der Grund dafür war zunächst nicht ersichtlich. Vor allem in der Kinderrunde reagierte er mit lautem Schreien und Weinen, stand auf und verließ wutentbrannt die Situation. Er begann, die Kolleginnen und andere Kinder zu schlagen, zu beißen und anzuspucken, wenn diese nur behutsam in seine Nähe kamen, um ihn zu beruhigen. Körperkontakt ließ er keinesfalls zu.
Mehrmalige Gespräche mit den Eltern brachten kein Ergebnis: Sie kannten die aggressiven Verhaltensweisen ihres Kindes und wussten ebenso wenig den Grund dafür.

Eine Antwort auf viele Fragen

Um Lukas und sein Verhalten verstehen zu lernen, nutzten wir die Videografie. Sie half uns dabei, anhand aufgenommener Filmsequenzen sein Verhalten zu analysieren und unser eigenes Verhalten ihm gegenüber zu reflektieren. Die Aufnahmen zeigten noch einmal deutlich, dass Lukas in den für uns normalsten Situationen emotional überreagierte, keine stimmliche oder körperliche Zuwendung ertrug und sich nicht beruhigen ließ. Seine Strategie, die Gefühle auszudrücken und sich abzugrenzen, bestand darin, mit Gegenständen zu werfen oder ein anderes Kind körperlich anzugreifen. Gleichzeitig zeigte sich Lukas im Eins-zu-eins- Kontakt mit Erzieherinnen wissbegierig, sprachlich gewandt, aufgeschlossen und konzentriert, er stellte interessierte Fragen und offenbarte ein fundiertes Sachwissen. Struktur und Ordnung waren ihm außerordentlich wichtig. Äußere Strukturen, die für Lukas nicht sinnvoll und nachvollziehbar waren, wurden von ihm nicht akzeptiert.
Schließlich holten wir uns Hilfe durch eine Heilpädagogin. Auf der Grundlage ihrer Beobachtungen äußerte sie die Vermutung, dass Lukas hochsensibel sei. Da dieser Begriff neu für uns war, lasen wir uns in entsprechende Fachliteratur ein und besuchten einen Vortrag über Hochsensibilität bei Kindern. Allmählich begannen wir zu verstehen, was uns Lukas durch sein Verhalten im Kita- Alltag sagen wollte.

Erste Erfolge

Wir versuchten auf unterschiedliche Weise, Lukas dabei zu unterstützen, seine Gefühle zu regulieren, z. B. mit Sinnesmaterialien. Haptische Eindrücke konnte er mal besser, mal weniger gut annehmen: Feine, weiche Materialien hielt er kaum aus, bei zarter Berührung wurde er nervös und angespannt. Auf härtere Materialien und klare Berührungen reagierte er dagegen gelassener.
Immer wieder gaben wir ihm im Alltag die Möglichkeit, sich in einen Raum zurückzuziehen, und boten ihm Ruhepausen mit verschiedenen Massage- und Sinnesangeboten an. Nicht immer konnte er dies positiv annehmen. Erst mit der Zeit gelang es ihm besser und die Wutanfälle gingen etwas zurück.
Dennoch blieb es für uns sehr schwierig, einen klaren Handlungsleitfaden im Umgang mit Lukas zu finden. Kleinste Signale konnten ein Schlüssel zu seinen Verhaltensweisen und Bedürfnissen sein. Diese erkannten wir nur durch kontinuierliche Präsenz einer pädagogischen Fachkraft, durch Beobachtungen und anschließende Reflexionen, und indem wir permanent den Tagesablauf und das Zusammenspiel der Kindergruppe prüften, in der Lukas sich bewegte. Der Junge geriet mehr und mehr in die Rolle des Außenseiters, da die anderen Kinder seine Emotionen nicht verstehen konnten. So beschlossen wir, ein Emotions- Kompetenz-Konzept zu erarbeiten. Mit dessen Hilfe sollten die Kinder lernen, ihre eigenen Emotionen und die von anderen zu verstehen und mit diesen umzugehen.

Den Blick auf sich selbst schärfen

Zum Emotions-Kompetenz-Konzept gehörte ein tägliches Treffen, bei dem die Kinder den eigenen momentanen Gefühlszustand mithilfe von Smileys an einer Gefühlswand darstellen sollten. Wir beschränkten uns dabei auf die drei Grundemotionen „fröhlich“, „traurig“ und „wütend“, um die Kinder nicht zu überfordern. Es ging dabei nicht um eine „richtige“ oder „falsche“ Antwort, sondern darum, den Blick auf sich selbst zu schärfen und bspw. inneren Konflikten durch Worte Ausdruck zu verleihen. Es bestand für die Kinder stets die Möglichkeit, weiter über ihre Gefühle zu sprechen.
Lukas fiel es anfänglich sehr schwer, seine Gefühle in Worte zu fassen – was gemessen an seinem Alter ganz normal war. Im Freispiel versuchten die Erzieherinnen, seine Gefühle mit Worten zu benennen: „Lukas, ich sehe, dass du dich freust, weil Jule mit dir spielt.“

Ein Gewinn für alle

Lukas ist mittlerweile 5;6 Jahre alt. Er hat gelernt, seine Emotionen sprachlich auszudrücken, auch wenn es ihm noch nicht immer gelingt – das bedarf kontinuierlicher Übung. Auch die anderen Kinder sind sehr an der gemeinsamen Zeit mit Lukas gewachsen: Sie alle können mittlerweile gut ihre eigenen Gefühle benennen. Sie haben gelernt, auf nonverbale Reaktionen (Körperhaltung, Gestik und Mimik) ihres Gegenübers zu achten, diese einzuordnen und sprachlich darauf einzugehen.
Momentan haben wir zwei weitere Kinder, bei denen wir eine Hochsensibilität vermuten. Diese Kinder schöpfen nun aus unseren Erfahrungen mit Lukas und haben die Chance, sich bei uns mit all ihren Eigenschaften und Gefühlen als wertvoll und angenommen zu erfahren. Entscheidend dabei ist immer die Haltung der Fachkraft: Nur wenn diese verständnisvoll, einfühlsam, wertfrei und aufmerksam auf die Kinder schaut, kann sie deren Wesen, Bedürfnisse und Verhaltensweisen verstehen und professionell darauf eingehen.

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