Als eine der wichtigsten Aufgaben frühpädagogischer Einrichtungen gilt ihr Bildungsauftrag: Festgehalten in landesspezifischen Bildungsplänen, gehören hierzu u. a. Bereiche wie „Sprache“, „Körper & Bewegung“ und „Sinn, Werte & Religion“. Der Bildungsauftrag schließt auch unter dreijährige Kinder ein, denn gerade in den ersten drei Lebensjahren nehmen Kinder schon sehr aktiv an ihrer Umwelt Anteil, setzen sich aktiv mit ihr auseinander und versuchen, sie mitzugestalten (Becker- Stoll/Niesel/Wertfein 2009; Schäfer 2011).
Dies trifft auch auf den Bildungsbereich Mathematik zu. Viele Erwachsene verstehen Mathematik als sehr abstrakte Disziplin, als komplexes Regelwerk, mit dessen Hilfe man bestimmte Aufgaben löst (z. B. mit der schriftlichen Addition). Dabei kann der Mathebegriff viel weiter gefasst werden: Die Mathematik versteht sich heute als die „Wissenschaft von den Mustern“ (Wittmann 2003). Ein mathematisches Muster ist etwas sehr Dynamisches, das gestaltet, fortgesetzt oder verändert werden kann. Muster können sowohl visueller oder auditiver Art als auch zeitlich erlebbar sein. So gesehen begegnen auch Kleinkinder in ganz unterschiedlichen Situationen Mathematik. Denn Muster und Strukturen bestimmen schon in den ersten drei Lebensjahren ihren Alltag und sind Erwachsenen vielleicht oft gar nicht mehr als solche bewusst, z. B. die wiederkehrende Struktur im Tagesablauf der Krippe oder der rechteckig geflieste Badezimmerboden. Mathematisch ausgedrückt stecken hierin schon erste Erfahrungen mit Strukturen.
Formen und Körper
Anni (2;5) spielt mit Holzbauklötzen. Diese sind zum Teil quader- und zum Teil würfelförmig. Anni geht dabei sehr systematisch vor und sortiert die gleichen Bauklötze jeweils zueinander. Dann stapelt sie die Klötze mit identischer Grundfläche aufeinander (Dunekacke 2012).
Wie dieses Beispiel zeigt, ermöglichen auch viele Materialien mathematische Erfahrungen. Im Freispiel beschäftigt sich Anni mit den Grundflächen der Würfel und Quader. Außerdem experimentiert sie mit der Raum-Lage-Beziehung, indem sie die Klötze mit gleicher Grundfläche aufeinanderstapelt. Aus der entwicklungspsychologischen Forschung weiß man, dass Kinder schon sehr früh Gegenstände als Ganzes betrachten und mit Begriffen belegen. Dann beginnen sie damit, die Eigenschaften der Gegenstände beobachtend oder handelnd zu erfahren. In dieser Phase fangen die Kinder oft an, Gegenstände, z. B. Spielzeug, nach einer bestimmten Eigenschaft zu sortieren (Franke/ Reinhold 2016).
Zahlen und Mengen
Ein mathematischer Bereich, den wir Erwachsenen besonders häufig im Blick haben, ist der Bereich der Zahlen und Mengen. Schon früh lässt sich beobachten, dass Kinder Zahlwörter als „besondere“ Wörter identifizieren und selbst einzelne Zahlwörter oder auch die Zahlwortreihe aufsagen. Zunächst sprechen sie die Zahlwortreihe auswendig herunter, ohne deren Inhalt und Bedeutung durchdrungen zu haben. Die Reihenfolge der Zahlen ist dabei i. d. R. zwar stets gleich, aber nicht immer korrekt. Dies ist kein Grund zur Sorge – im Laufe der kommenden Jahre haben die Kinder viele Gelegenheiten, spielerisch das Abzählen zu üben, und lernen dabei automatisch die richtige Reihenfolge der Zahlen kennen.
Viele Kinder beginnen schon in den ersten drei Lebensjahren, Gegenstände abzuzählen. Dabei lernen sie ein wichtiges Prinzip des Abzählens kennen: die Eins-zu-eins- Zuordnung. Demnach wird jedem abzuzählenden Gegenstand genau ein Zahlwort zugeordnet. Die Verinnerlichung dieses Prinzips können Fachkräfte in vielen alltäglichen Situationen spielerisch fördern, z. B. beim Tischdecken (zu jedem Teller gehört ein Trinkglas) oder im Sitzkreis, wenn Materialien verteilt werden (jeder bekommt eine Kastanie). Auch der Umgang mit Mengen beschäftigt bereits junge Kinder, wie das folgende Beispiel zeigt:
Mark (2;4) möchte, so wörtlich, „viele“ Bausteine in ein kleines Gefäß füllen. Daraus, dass er schließlich mehrere Bausteine in das Gefäß füllt, lässt sich schließen, dass er schon ein implizites Verständnis davon hat, was das Wort „viel“ bedeutet und dass es mehr als ein einzelner Baustein sein muss (Dunekacke 2012).
Kinder können bereits im ersten Lebensjahr Mengen unterscheiden. Hierbei nehmen sie besonders Unterschiede zwischen zwei Mengen wahr, etwa zwischen zwei Obststücken auf dem einen und fünf Obststücken auf dem anderen Teller.
Wenig und viel
Im Laufe der Entwicklung beginnen sie dann, wie auch das Beispiel von Mark zeigt, die Mengen mit Begriffen wie „wenig“ und „viel“ zu belegen. Auch bei spielerischen Tätigkeiten wie Anhäufen, Umfüllen, Ausleeren, Dazutun und Wegnehmen machen sie Erfahrungen mit Mengen, die wichtig für die weitere Entwicklung ihres Zahlverständnisses sind (Krajewski/ Grüßing/Peter-Koop 2009). Häufig stehen bei Kleinkindern das Zahlen- und das Mengenverständnis noch in keinerlei Beziehung. Wenn sie in beiden Bereichen viele Gelegenheiten haben, ihre Fähigkeiten auszubauen, gelingt ihnen die Verbindung der beiden Bereiche, die bei den allermeisten Kindern zwischen dem dritten und sechsten Lebensjahr stattfindet, umso besser.
Mathe überall
Im Bereich Mathematik gibt es vielfältige Anknüpfungspunkte, wie pädagogische Fachkräfte die Kinder in der Auseinandersetzung mit Mustern, Formen, Zahlen und Mengen fördern können. Eine ihrer Aufgaben besteht bspw. darin, Materialien bereitzustellen, die zu unterschiedlichen mathematischen Aktivitäten anregen. Hierbei ist es auch sinnvoll, die bereits vorhandenen Materialien und Raumelemente durch die „mathematische Brille“ zu betrachten und zu überlegen, welche mathematischen Erfahrungen die Kinder damit machen können:
- Bauklötze und Legeplättchen: geometrische Körper und Formen kennenlernen und deren Eigenschaften entdecken (Bsp.: Die Kugel rollt weg, der Würfel bleibt liegen), Reihen oder Muster legen, stapeln und sortieren
- Podeste, Stühle, Tische: Raum- Lage-Beziehungen erfahren (sich unter dem Tisch verstecken, sich auf das Podest stellen, über den Stuhl klettern)
- Kacheln, Zäune, Tapeten, Tischdecken: Muster und Symmetrien entdecken, mit dem Finger nachfahren
- Kastanien, Bohnen, Reis: abzählen, anhäufen und zerstreuen, in unterschiedlich geformte Gefäße füllen und ausleeren, umschütten
Auch über die Sprache können pädagogische Fachkräfte die mathematische Bildung der Kinder begleiten. Die obigen Beispiele haben deutlich gemacht, dass es schon für Kleinkinder eine Art „mathematische Fachsprache“ gibt. Hierzu gehören z. B. die Zahlwörter oder Begriffe wie „viel“, „wenig“ oder „keins“. Fachkräfte können diese mathematischen Begriffe normal gebrauchen und aufmerksam auf die kindlichen Äußerungen eingehen. Auch Formen und Körper können sie altersgemäß benennen, den Würfel als „Würfel“ und den Quader vielleicht als „Paket“. So lernen die Kinder, dass sich diese beiden Körper unterscheiden; zunächst dem Namen nach, später dann durch ihre Eigenschaften.
Auch das Tischdecken bietet Anknüpfungspunkte für mathematische Aktivitäten: Mit dem Satz „Ich lege neben jeden Teller einen Löffel“ drückt man einerseits die Eins-zueins- Zuordnung aus und macht andererseits eine Aussage zur Raum- Lage-Beziehung von Teller und Löffel. Solche Bildungsmomente bieten sich in zahlreichen pädagogischen Situationen an, sei es in der Garderobe, im Bad oder im Garten. Auch finden sich immer wieder Anlässe zum Zählen bzw. Abzählen: Die Fachkraft begleitet dies idealerweise sowohl sprachlich, indem sie die Zahlwörter deutlich ausspricht, als auch gestisch, indem sie nacheinander auf die jeweiligen Personen oder Gegenstände zeigt.
Diese auf Mathematik fokussierte Beleuchtung der Einrichtung und des pädagogischen Alltags kann den Fachkräften sehr dabei helfen, von Zeit zu Zeit ihren Blick auf diesen wichtigen Bildungsbereich neu zu schärfen. So können sie die Kinder optimal begleiten und ihnen altersgerechte Möglichkeiten eröffnen, mit der Welt der Mathematik in Berührung zu kommen.