Einem Zufall ist es zu verdanken, dass sich Elfriede Hengstenberg und Emmi Pikler in den Dreißigerjahren des letzten Jahrhunderts in Budapest begegneten. Elsa Gindler, eine Pionierin der somatischen Körperarbeit und Gymnastiklehrerin, war verhindert und schickte ihre Schülerin Elfriede Hengstenberg zu der Kinderärztin Pikler, um dort Erwachsenenkurse zu leiten.
Hengstenberg & Pikler damals
Pikler lernte durch Hengstenberg die Arbeitsweise Elsa Gindlers und ihres Weggefährten Heinrich Jacoby kennen. Sie sah sich in ihrer pädagogischen Überzeugung bestärkt, dass es notwendig sei, die naturgegebenen Gesetzmäßigkeiten der kindlichen Entwicklung zu erforschen. Nur so könne man die ursprünglichen Fähigkeiten und Kräfte eines Kindes erhalten (s. Ausgabe 8/2021, S. 6). Aus ihrer praktischen Arbeit als Kinderärztin und später in dem von ihr gegründeten Säuglingsheim für elternlose Kinder, Lóczy, entwickelte Emmi Pikler Prinzipien für ein gesundes Aufwachsen von Kleinkindern. Diese haben bis heute Gültigkeit:
- Pflege, die als behutsame körperliche Versorgung und als Kommunikation mit dem Kind geschieht und aufmerksam für dessen Wunsch nach Mitwirkung ist,
- Bewegungsentwicklung, die das Kind aus eigenem Antrieb und im eigenen Rhythmus durchläuft – ohne die lenkenden und beschleunigenden Eingriffe eines Erwachsenen,
- Spielen, das frei und ungestört in einem geschützten, altersgemäß eingerichteten, d.h. in einem vorbereiteten Spielraum, stattfindet; dieser ist ausgestattet mit entwicklungsgerechtem Spielmaterial, das zum selbstständigen Entdecken und Erforschen einlädt und somit die Grundlage für Lernbereitschaft und Lernfreude schafft.
Um ihre Prinzipien zu verwirklichen, entwickelte Pikler eigene Spiel- und Bewegungsgeräte, z.B. das kleine bzw. große Pikler-Dreieck, das Pikler Podest (Kiste) mit Anbaukeilen, das Labyrinth, eine Art Tunnel, den Wickelaufsatz und die Raumteiler.
Elfriede Hengstenberg wiederum fand bei Emmi Pikler ihre eigene Auffassung bestätigt, dass jede Art von kindgerechter Erziehungsarbeit dem behutsamen Entfalten und Entwickeln der Anlagen von Jungen und Mädchen unter Berücksichtigung ihrer Bedürfnisse nach Selbstständigkeit zu dienen hat. Hengstenberg entwickelte ihren bewegungspädagogischen Ansatz aus eigenen Beobachtungen der ursprünglichen Regungen junger Kinder heraus. Sie erkannte, dass isolierte Übungsprogramme, die lediglich auf die Verbesserung der körperlichen Haltung abzielen, sich nur oberflächlich auswirken, da sie in keinem inneren Zusammenhang mit der Lebenswirklichkeit der Kinder stehen. Sie begann, sich für deren Gesamtentwicklung und Lebensbedingungen zu interessieren, um den wirklichen Entwicklungsbedürfnissen gerecht zu werden.
Kinder als selbstständige Forscher
Hengstenberg fragte sich: Wie können Kinder, die ihr äußeres und inneres Gleichgewicht verloren haben, Vertrauensbereitschaft, Hingabe, Ernst und Freude am Leben wiedergewinnen, mit der jeder Mensch von Geburt an ausgestattet ist?
Die Pädagogin stellte fest, dass bei Mädchen und Jungen, die sich forschend einer selbstgestellten Aufgabe widmeten, statt ausschließlich Bewegung zu trainieren, eine positive Veränderung eintrat. Es ging nicht mehr nur darum, den Körper zu einer Leistung zu befähigen. Das Kind wurde vielmehr ermutigt, sich mit „Leib und Seele“ einzubringen: „Wir alle kennen diese ursprünglichen Regungen der Kinder, die immer wieder darauf hinauslaufen, allein probieren zu wollen. Wir sollten nur noch mehr darum wissen, dass diese unermüdliche Überwindung von Widerständen aus eigener Initiative dem Kind jene Spannkraft verleiht, die wir ihm zu erhalten wünschen, und dass die Freude an der Auseinandersetzung mit Schwierigkeiten darauf beruht, dass es selbstständig beobachten, forschen, probieren und überwinden durfte“ (Hengstenberg 2005, S. 15).
Hengstenberg-Materialien
Elfriede Hengstenberg begann, einfache Holzmaterialien und -geräte zu entwickeln, die den kindlichen Forscherdrang ernst nehmen und herausfordern: Kippelhölzer, Hocker, Balancierstangen, Klettergerät, Wackelbretter, Hühner- und Spielleitern etc. In der wiederholten Auseinandersetzung mit der Schwerkraft sollten die Kinder hemmende, behindernde Haltungen überwinden. Sie erfuhren „allmählich das Geheimnis der aktiven Aufrichtung aus eigenem Antrieb“, wie Ernst J. Kiphard, Mitbegründer der Psychomotorik in Deutschland, die Auswirkung des Hengstenberg-Spiels auf die Kinder beschreibt (Kiphard 1992, S. 90).
Hengstenberg & Pikler heute
Der Zufall, der zur Freundschaft zwischen Hengstenberg und Pikler führte, entpuppte sich als Glücksfall in der Geschichte der Pädagogik. Noch heute profitieren Krippen und Kitas, die die Ansätze von Pikler und Hengstenberg in ihre tägliche Arbeit integrieren davon, wie die folgenden Übereinstimmungen zeigen:
- Die kongeniale Ergänzung der beiden Bewegungs- und Spielansätze, in denen es um die freie, natürliche Bewegung des Kindes geht.
- Ihr ganzheitlicher Blick auf das Kind, seine Lebenswirklichkeit und seine Interessen.
- Ihr gemeinsamer Fokus auf die Interessen, die Selbstständigkeit und Eigeninitiative des Kindes.
- Ihrer beider Erkennen, welche Bedeutung die Bewegungsentwicklung des Kindes für seine Persönlichkeitsentfaltung hat.
- Ihre gemeinsame Beobachtung, dass die Bewegungsentwicklungin der spielerischen Auseinandersetzung mit den gestellten Aufgaben, im freien Spiel, wie Pikler sagt, am besten gelingt.
Diese zentralen Aspekte eines Menschenbildes, das sich an den natürlichen Lebensprozessen orientiert, bieten Einrichtungen für Kinder zwischen null und sechs Jahren die Möglichkeit, eine entsprechende Bewegungs- und Spielerziehung im Krippen- und Kita-Alltag anzubieten. Sie entgehen so der Gefahr, diesen Alltag zu verschulen, statt Kindern Entfaltungs- und Selbstbildungsräume im Rahmen des freien Spiels mit allen Sinnen im Drinnen- und Draußen-Bereich anzubieten. Und das benötigen die Kinder von heute dringender denn je: Eine gelungene Bewegungsentwicklung ist der Schlüssel für eine gesunde Persönlichkeitsentfaltung. Oder um es mit Jean Piaget, dem Schweizer Kinderpsychologen, zu sagen: Die sensomotorische Fähigkeit des Kindes ist die Basis für seine intellektuelle, soziale und persönliche Entwicklung. Ein Befund, der schon lange zum Erkenntnisinventar der Psychomotorik gehört und nun auch von der Neurobiologie bestätigt wird: Verstehen kommt von Stehen. Begreifen von Greifen.
Krippen und Kitas, die nach Pikler und Hengstenberg arbeiten, greifen dies auf. Sie sorgen dafür, dass Kinder im Gepäck haben, was sie brauchen, wenn die Schule auf sie zukommt: Schul- und Lebenskompetenz. Darunter verstehen wir die sog. wissensunabhängigen Kompetenzen, die Leben-und-Lernen-Können erst ermöglichen: Selbstvertrauen, Neugierde, Intentionalität, Selbstwirksamkeit, Instinkt und Reflexe, Selbstbeherrschung, soziales Miteinander, Kommunikations- und Kooperationsfähigkeit etc.
Aufgaben der Fachkraft
Der Übergang von der Krippe in den Elementarbereich ist für das Kind genauso fließend wie der Übergang vom Spiel mit Pikler- hin zu Hengstenberg-Bewegungsmaterialien. Wenn die Kinder mit Piklers Ansätzen aufgewachsen sind, d.h. sich selbst, ihren Körper, ihre Mitwelt kennen, ihr Gleichgewicht gefunden haben, fallen können, selbstständig handeln und in der Phase von zwei bis drei Jahren reif sind für weitere, größere Herausforderungen, liegt es auf der Hand, sie Schritt für Schritt die Hengstenberg Bewegungs- und Spielmaterialien entdecken zu lassen. Diese unterscheiden sich in Höhe, Länge und Breite deutlich von Pikler-Materialien.
Genauso ist für die erwachsene Begleitperson vom pädagogischen Standpunkt aus der Übergang von Pikler zu Hengstenberg ein fließender. Das hängt mit der Übereinstimmung von Piklers und Hengstenbergs Menschenbild und dem daraus folgenden Bewegungs- und Spielansatz zusammen, dessen Anspruch ein qualitativer ist. Der ganzheitliche Blick auf das Kind impliziert didaktisch-methodisch die Frage nach der Qualität sowohl der Art und Weise, wie Kinder begleitet werden, als auch nach der des Raumes, dem sog. dritten Erzieher.
In der Pikler- und Hengstenberg Arbeit fragen sich die erwachsenen Begleitpersonen: Welche Qualität müssen Raum und Umgebung des Kindes haben? Und welche Qualitätsmerkmale muss zugleich die Begleitung seitens der Erwachsenen aufweisen, um möglichst günstige Entfaltungsbedingungen für die ihnen anvertrauten Kinder zu garantieren? Die in jahrzehntelanger Pikler- und Hengstenberg-Arbeit gewonnene Erfahrung führt zu weitreichenden Ergebnissen.
Aufgabe des Erwachsenen ist es, sich seiner Rolle und Verantwortung für ein Gelingen bzw. Nichtgelingen von Entfaltungsprozessen bei Kindern bewusst zu werden und sich folgende Fragen zu stellen:
- Bin ich bereit, das Kind von Anfang an als vollständige Persönlichkeit zu sehen, der ich auf Augenhöhe begegne und die ich, auch in der Pflege, partizipieren lasse?
- Bin ich bereit, mich bezüglich meiner Rolle auf einen Wachstumsprozess einzulassen, bei dem ich lerne, das mir anvertraute Kind nicht als Objekt meiner Vorstellungen, Wünsche und Ängste zu sehen, sondern als Subjekt mit eigenen Interessen, Wünschen, Vorstellungen und Ängsten?
- Begreife ich mich immer mehr als kundiger, interessierter, einfühlsamer Beobachter, der zwar präsent, aber nicht dominant ist?
Damit die erwachsene Begleitperson in diese nicht-direktive Haltung hineinwachsen kann, braucht es eine entsprechende Zeitstruktur im Alltag, die sowohl den Kindern als auch den Erwachsenen mehr Zeit lässt, als dies oft der Fall ist. Wie häufig geschieht Dominanzverhalten aus Nichtwissen und Überforderung, aus Zeitmangel oder aus Überstrukturierung des Krippen- und Kita-Alltags heraus.
Aufgabe des Erwachsenen ist es schließlich, eine sichere und auf die Lebens- und Spielbedürfnisse der Kinder abgestimmte Umgebung zu schaffen: eine vorbereitete Umgebung. Sie weckt und unterstützt behutsam die kindliche Neugier und den Forscherdrang, die Lust am Experimentieren, Spielen und Entdecken und ermöglicht so ein erfahrungsreiches, kompetentes und selbstständiges Aufwachsen, das Kinder stark macht. Genau hier haben die Bewegungs- und Spielmaterialien von Pikler und Hengstenberg ihren Platz. Sie greifen das natürliche Interesse der Kinder am Spiel bewusst auf. Gleichzeitig fungieren sie aufgrund ihres Spielwerts, ihrer Kombinationsmöglichkeiten und ihrer Stabilität seit Jahrzehnten als verlässliche und unerschöpfliche Entfaltungs- und Entwicklungshelfer.