Ein junges Kind kann nicht allein sein. Damit es ihm gut geht, braucht es die Zuwendung vertrauter Personen. „Der Kern des kindlichen Bindungsverhaltens ist das Bedürfnis nach Geborgenheit“, so die Worte des renommierten Schweizer Kinderarztes Remo Largo (Largo 2021, S. 44). Bei der Bildung, Erziehung und Betreuung von Kindern unter einem Jahr ist aus entwicklungspsychologischer Sicht auf höchste Qualität zu achten. Da Babys für die Befriedigung ihrer psychischen und physischen Bedürfnisse noch stark von ihrer sozialen Umwelt abhängig sind, brauchen sie verlässliche Bezugspersonen, die feinfühlig agieren (Grossmann/ Grossmann 2004). Im Folgenden soll das kindliche Bedürfnis nach Bindung im Kontext der Eingewöhnung in Krippe, Kita und Kindertagespflege genauer betrachtet werden.
Bindung, um zu überleben
Menschliche Neugeborene sind im Gegensatz zu anderen Lebewesen sehr lange nicht in der Lage, sich selbst zu versorgen. Eine andere Person ist für den Säugling zwingend notwendig. Nach der allgemein anerkannten ethnologischen Bindungstheorie nach John Bowlby (Bowlby 2016) sind dafür zwei Gründe zu nennen: Zum einen ist für ein Neugeborenes die menschliche Nähe und Wärme, verbunden mit Zuneigung, unerlässlich. Hieraus entwickelt sich später eine emotionale Bindung. Zum anderen geht es für den Säugling ums Überleben. Das Kind sendet daher Signale aus, die die Bindungspersonen in der Nähe halten und zur Fürsorge anregen. Die ersten Signale sind Weinen, Schreien und undefiniertes Greifen, das später gezielter wird, ebenso wie das erste Lächeln mit ca. vier bis sechs Wochen.
Ab diesem Lebensalter beginnt auch die eigentliche Bindungsphase. Das Kind bekommt eine Ahnung davon, dass seine Signale Auswirkungen auf das Gegenüber haben, und entwickelt eine erste Beziehung zu den vertrauten Personen, die es nun langsam an Geruch, Stimme und Äußerem erkennt. Die Bindung, die auch die Eltern erst im Verlauf der Schwangerschaft und über die Geburt hinweg zu ihrem Kind aufbauen, festigt sich in dieser Zeit.
Eine erkennbare Bindung zeigt sich ca. ab dem sechsten Lebensmonat. Das Kind beginnt, aktiv die Nähe seiner Bezugspersonen – meist beide Elternteile – zu suchen. Von hier aus versucht das Baby zunehmend, verbunden mit erweiterten motorischen und kognitiven Fähigkeiten, seine jeweilige Umgebung zu erobern und zu explorieren. Die Bezugspersonen dienen dabei als sichere Basis.
Im Lauf der ersten zwei Lebensjahre verändert sich das Bindungsverhalten des Kindes. Es erweitert durch die Zunahme motorischer, kognitiver und sprachlicher Kompetenzen sein Lebens- und Sozialumfeld und kann die Nähe zu Bindungspersonen dadurch besser regulieren und einschätzen – durch Verhandeln oder auch das Einbeziehen der Absichten der anderen. Insbesondere der Aufbau sensomotorischer Schemata, also die Fähigkeit, aufgenommene Sinnesinformationen verschiedener Herkunft zusammenzuführen, zu ordnen und zu strukturieren, stellen eine wesentliche Entwicklung im ersten Lebensjahr dar (Haug-Schnabel/Bensel 2017).
Frühes Explorationsverhalten
Im ersten Lebensjahr des Kindes steht die Beantwortung seines Bindungsbedürfnisses im Vordergrund – sein Autonomieanspruch ist hier noch gering. Es ist auf zuverlässige Bindungspersonen wie seine Eltern und/oder außerfamiliäre Betreuungspersonen angewiesen und benötigt viel Unterstützung bei der Erfüllung primärer Grundbedürfnisse wie Essen, Schlafen oder Nähe.
Je älter ein Kind wird, desto mehr geht es darum, ihm Entwicklungsschritte zuzutrauen und sein Autonomiebedürfnis anzunehmen und zu regulieren. Um autonom explorieren zu können, benötigt es diese sichere Basis bereits im Säuglingsalter.
Damit Kinder in der außerfamiliären Betreuung die Welt in ihrem eigenen Rhythmus und nach ihren eigenen Interessen entdecken können, brauchen sie die innere Sicherheit, respektiert und angenommen zu sein. Indem Fachkräfte und andere Betreuungspersonen für die Kinder zuverlässig da sind, wenn sie gebraucht werden, und den Jüngsten durch wiederkehrende Rituale und vertraute Räumlichkeiten diesen Rahmen und Rückhalt geben, schafft die außerfamiliäre Betreuung eine wichtige Grundlage für den kindlichen Entdeckungsdrang. Neben dem Grundbedürfnis nach Geborgenheit, Nähe und Verbundenheit streben Kinder gleichwertig nach Autonomie und Exploration.
Lebens- bzw. Grundkompetenzen können Erwachsene nicht vermitteln, diese müssen von den Kindern selbst erfahren werden, um sie in sich zu entwickeln. Dies geschieht in der Auseinandersetzung mit der eigenen Lebenswelt und in der alltäglichen Interaktion mit Menschen. Gelingen kann dies, wenn Mädchen und Jungen in funktionierenden Beziehungen leben, sich darin sicher und geborgen fühlen und wenn sie sich mit anderen Kindern in spielerischem Ernst bewähren dürfen. Wo Beziehungen funktionieren, funktioniert Entwicklung, Nachahmung, gemeinsames Staunen und Lernen.
Diese theoretischen und wissenschaftlichen Erkenntnisse haben Auswirkungen auf die institutionelle Betreuung und auf die Eingewöhnungen in Krippe, Kindertagespflege und Kindertageseinrichtung. Heute wissen wir, wie wichtig, gar lebensnotwendig die Befriedigung des Bedürfnisses nach und der Aufbau von Bindung sind und dass sie die Grundlage einer gesunden Entwicklung darstellen.
Unerlässlich dabei ist außerdem eine Zusammenarbeit mit den Eltern, die auf Offenheit, Ehrlichkeit, Freundlichkeit und gegenseitigem Respekt basiert.
Erziehungspartnerschaft
Besonders im Säuglings- und Kleinkindalter gilt es für die Fachkraft, den Spannungsbogen von unterschiedlichen Sichtweisen und Interessen auszubalancieren und feinfühlig auf die Bedürfnisse und Gedanken der Eltern einzugehen.
Der Aufbau eines vielseitigen Vertrauensverhältnisses (Kind-Eltern-Einrichtung/Betreuungsperson) wird als Bindungsdreieck bezeichnet. Hierbei wird neben der sicheren Beziehung bzw. Bindung zwischen dem Kind und mind. einer Betreuungsperson auch die Beziehungsqualität zwischen den Elternteilen und einzelnen Teammitgliedern als Grundlage für ein gelungenes Zusammenwirken in der Betreuungseinrichtung vorausgesetzt. Wenn das Bindungsdreieck als Grundverständnis gelungener Bildungs- und Erziehungspartnerschaft anerkannt wird, schafft es die Grundlage für zukünftig erfolgreiche Transitionen des Kindes und für eine gute Zeit in der Einrichtung.
Eine stabile, verlässliche und gesunde Beziehung zu Kindern aufzubauen, ist daher von zentraler Bedeutung und wird meist durch die Eingewöhnung als erster Schritt in die Kita eingeleitet. Dieser Prozess stellt einen neuen Lebensabschnitt für die gesamte Familie dar, verbunden mit einer hohen und aktiven Anpassungsleistung des Kindes an die neue Situation.
Schon der Erstkontakt der Fachkraft zu den Eltern ist wesentlich, um Vertrauen und eine gute Beziehung aufzubauen. Mütter und Väter brauchen von Anfang an das Gefühl, dass die Krippe oder Kita für ihr Kind sicher, behütend und entwicklungsfördernd ist. Durch die meist enge Bindung von Kind und Eltern überträgt sich das gute und verbundene Gefühl der Eltern zur Eingewöhnungssituation und der Einrichtung dann auch auf das Kind.
Gut vorbereitete Leitfragen bieten zudem eine Gesprächsorientierung, um die Gewohnheiten, Erfahrungen, Prägungen und Besonderheiten des Kindes vor der Eingewöhnung herauszufinden (s. INFO). Dies ist besonders wichtig, um es besser kennenzulernen und auf seine Bedürfnisse eingehen zu können. Eine vorzeitige und bewusste Planung der Eingewöhnung von Säuglingen wird ebenso empfohlen wie die schrittweise und am Kind orientierte Eingewöhnung und Trennung von der Bezugsperson.
Info
Checkliste: Vorgespräch für die Eingewöhnung
- Informationen über das Kind sammeln, Familie kennenlernen
- Welche Rolle spielt die frühe Bindung für Kinder?
- Welche Rolle haben die Eltern im Eingewöhnungsprozess?
- Welche Bedeutung hat die Stabilität der Bindungsbeziehung zwischen Kind & Eltern?
- Welche Rolle hat die pädagogische Fachkraft im Eingewöhnungsprozess?
- Woher rühren die Verhaltensunterschiede des Kindes in Kita und Familie?
- Wie können Eltern den Prozess vorbereitend unterstützen?
- Ablauf der Eingewöhnung vorstellen – in Anlehnung an welches Modell wird die Eingewöhnung durchgeführt?
- Wie können sich Eltern in der Eingewöhnungssituation verhalten? Sie sollten sich möglichst im Hintergrund halten, dem Kind aber Nähe spenden, wenn es von sich aus auf sie zukommt
- Besonders sensibel auf die Schlaf- & Wachzeiten des Säuglings achten und die Eingewöhnungszeiten mit den Eltern entsprechend planen
- Aktuelles Essverhalten des Kindes: Welche Konsistenz hat das Essen?
Vor und nach der Eingewöhnung
Die Eingewöhnung ist meist am Münchner oder Berliner Modell ausgerichtet. Diese liefern die wichtigsten Grundschritte. Insbesondere bei Kindern unter einem Jahr sollte der Fokus der Betreuungsperson auf dem Beziehungsaufbau mit dem Kind und der Zunahme an direkter Interaktion liegen, die durch ein hohes Maß an Sensitivität und Feinfühligkeit geprägt ist, bevor ein erster Trennungsversuch initiiert wird. In welchen Verhaltensweisen sich diese Handlungskompetenzen äußern, zeigen die folgenden Punkte:
- Empathie & Feinfühligkeit:
In der fachlichen Auseinandersetzung mit Interaktionsqualität wird häufig der Begriff der Responsivität genannt. Dieser bedeutet, dass die Fachkraft sensibel, einfühlsam und prompt auf die Signale des Kindes reagiert. Es ist empfehlenswert, die Eltern-Kind-Interaktion in den ersten Tagen intensiv zu beobachten, um Verhaltensweisen des Elternteils, die eine positive Auswirkung auf das Kind haben, adaptieren zu können.
- Kontinuität & Stabilität:
Die Eingewöhnung sollte so gestaltet werden, dass während dieser Phase möglichst immer dieselbe Fachkraft verlässlich und konstant ihre Rolle einnimmt, um eine sichere Basis für den Beziehungsaufbau zu schaffen.
- Respektvolle Kommunikation:
Die Dialogfähigkeit der pädagogischen Fachkraft bildet diesbezüglich eine weitere Grundlage der täglichen Arbeit für und mit dem Kind. Handlungen werden sprachlich begleitet bzw. vorab angekündigt, Gegenstände gezeigt und benannt, die Signale und Zeichen des Kindes beachtet und angemessen beantwortet.
- Geduld & Gelassenheit:
Die Fachkraft sollte Verständnis dafür haben, dass die Eingewöhnung eine große Herausforderung für das Kind und auch für seine Eltern darstellen kann.
Das Abschlussgespräch nach ca. sechs bis acht Wochen dient dazu, die Entwicklung des Kindes in der Einrichtung zu reflektieren und den Eltern eine ausführliche Rückmeldung zu geben. Auch die Väter und Mütter sollen hier ausreichend Möglichkeit bekommen, ihre Eindrücke, Wahrnehmungen und Beobachtungen zurückzumelden.
Fazit: Eine hohe Interaktionsqualität bildet die wichtigste Grundlage für eine vertrauensvolle Beziehung zwischen Kind und Betreuungsperson.
Info
Selbstreflexion: Leitfragen fürs Team
Zur Vorbereitung auf das Gespräch vor der Eingewöhnung können Leitfragen zur Selbstreflexion hilfreich sein, die den Fokus auf den Beziehungsaufbau zum Säugling und seinen Bezugspersonen lenkt:
- Welche spezifisichen Anforderungen und Herausforderungen ergeben sich durch die unterschiedlichen Bindungsphasen mit Blick auf die Eingewöhnung?
- Was brauchen besonders die von uns betreuten Kleinkinder, damit wir ihrem Bedürfnis nach Sicherheit und Geborgenheit entsprechen? Sind Ablauf und Gegebenheiten in unserer Einrichtung daran angepasst?
- Welche Rolle nehmen wir als pädagogische Fachkräfte in der Bindungsbiografie eines Kindes ein? Sprechen wir hier von einer echten Bindung oder bewegt man sich im institutionellen Rahmen eher auf der Ebene einer Beziehung? Wie können wir die so dringend benötigte Zuwendung und Verlässlichkeit dem Kind gegenüber zeigen und sichtbar werden lassen?
- Welche Personen muss ich „mit eingewöhnen“? Was hat möglicherweise das Bindungsmuster des Kindes geprägt?
- Welche Ängste haben Eltern (und Kinder) bei einer Eingewöhnung? Wie können wir diesen (auch im Vorfeld) kompetent begegnen? Was brauchen Eltern, um ihr Kind vertrauensvoll in unsere Hände zu geben?