Alle Kinder haben ein Recht auf Schutz und gewaltfreie Erziehung; das gilt auch in Einrichtungen frühkindlicher Bildung, Betreuung und Erziehung. Dennoch sind in Krippen und Kitas immer wieder (unbeabsichtigte) Grenzüberschreitungen und verletzende Verhaltensweisen der Fachkräfte zu beobachten (Maywald 2020). Der Ausdruck verletzendes Verhalten beschreibt in diesem Zusammenhang nicht-feinfühlige Handlungen und Haltungen in Fachkraft-Kind-Interaktionen und umfasst somit alle Formen der Missachtung von Kindern, ihrer Rechte sowie ihrer Grundbedürfnisse.
Negative Beispiele hierfür sind: Kleinkinder anschreien oder ausgrenzen, ein weinendes Kind nicht trösten oder Kleinkinder zum Essen oder Schlafen zwingen (Boll/Remsperger-Kehm 2021; Maywald 2019). Im Präventionsprogramm „Mutausbruch – füreinander stark machen“ werden Fachkräfte dabei begleitet, sich für gelingende und feinfühlige pädagogische Beziehungen einzusetzen, verletzendes Verhalten gegenüber Kindern zu erkennen und zu vermeiden.
Darüber hinaus werden im Rahmen des Teilprojekts „traut euch! Ein Kinderkoffer gegen Gewalt“ Kinder im Alter von zwei bis sechs Jahren durch vielfältige Methoden, Impulse und Aktivitäten ermutigt, sich dem Thema verletzendes Verhalten alters- und entwicklungsangemessen zu nähern.
Die Kleinstkinder-Redaktion hat die drei wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen des Forschungsprojekts zu den Beweggründen und ihren bisherigen Erfahrungen mit dem traut euch!-Kinderkoffer befragt.
Was ist im traut euch!-Koffer alles enthalten?
traut euch!-Team: Unser Kinderkoffer enthält eine Vielfalt an Methoden und Materialien, bspw. Aktivitätskarten. Diese beschreiben Impulse und Aktivitäten u.a. zu den Themenbereichen Gefühle, Kinderrechte und Mitbestimmung. In Zusammenarbeit mit einer Kinderbuchillustratorin sind fünf Figuren, Kritzi Kratzi und die Bande entstanden, welche die Jüngsten dazu einladen, sich spielerisch mit kinderrechtsbasierten Themen auseinanderzusetzen. Die Figuren erleben unterschiedliche Emotionen und sind in alltäglichen, für Kinder vertrauten Schlüsselsituationen abgebildet, bspw. beim Essen, Schlafen oder in der Garderobe. Die Filzfiguren aus dem Koffer sind auch haptisch erfahrbar. (s. INFO S. 15)
Wie genau unterstützt der Koffer die Fachkräfte in einer achtsamen Interaktion mit U3-Kindern?
traut euch!-Team: Durch die Auseinandersetzung mit den Inhalten und Aktivitäten des traut euch!-Kinderkoffers werden pädagogischen Fachkräften neue Perspektiven in Bezug auf bestehende Rituale, Regeln und Alltagsstrukturen eröffnet. Gleichermaßen werden sie angeregt, diese im Sinne einer kinderrechtsbasierten Haltung zu reflektieren. Zusätzlich werden die Fachkräfte durch die Arbeit mit dem traut euch!-Kinderkoffer dabei unterstützt, die verbalen und nonverbalen Feinzeichen der Kinder wahrzunehmen und im Sinne einer kinderrechtsorientierten Haltung zu reagieren. Für uns ist wichtig zu betonen, dass die Verantwortung für das Verstehen der Bedürfnisse und Gefühlszustände der Mädchen und Jungen zu jeder Zeit bei den Fachkräften liegt.
Wie genau werden Kleinkinder darin unterstützt, sich auch ohne Worte mitzuteilen und ihre Gefühlswelt zu erleben?
traut euch!-Team: Die zahlreichen Aktivitäten und Materialien des Kinderkoffers legen den Schwerpunkt auf das eigene Gefühlserleben der Jüngsten innerhalb ihrer Einrichtungen. Die Figuren und Illustrationen unterstützen die Kinder dabei, ihre Gefühle und Bedürfnisse nach außen zu tragen, bspw. indem sie eine der vielen Gefühlskarten für sich sprechen lassen. Aktivitäten wie Gefühlspantomime, Malen nach Musik oder die traut euch!-Bewegungsbaustelle ermöglichen es den Kindern, eigene positive Erfahrungen mit ihrem Körper und dessen Ausdrucksweisen zu erleben.
Darüber hinaus bilden sich bereits bei unter Dreijährigen Formen von Mitbestimmungs- und Mitentscheidungskompetenzen, indem sie selbst die Entscheidung treffen, ob sie bspw. an einer Aktivität teilnehmen möchten oder nicht.
Das Pilotprojekt befindet sich in der Endphase. Welche Rückmeldung gibt es seitens der pädagogischen Fachkräfte?
traut euch!-Team: Die Ausgestaltung der Aktivitäten aus dem traut euch!-Kinderkoffer unterscheidet sich mitunter deutlich, da sie an die jeweiligen Umstände der 22 teilnehmenden Einrichtungen angepasst werden. Die Rückmeldungen in der derzeitigen Entwicklungsphase sind insgesamt positiv – wobei auch hier die Spuren von Personalmangel, hohem Krankenstand und Erschöpfung bei Fachkräften und auch Leitungen zu erkennen sind. Die Integration der Inhalte des traut euch!-Kinderkoffers in den pädagogischen Alltag bleibt gerade unter diesen Bedingungen eine Herausforderung. Doch dieser sukzessive Prozess ergänzt das verpflichtende Schutzkonzept um eine pädagogische Schutzpraxis und ist daher ein zentrales Anliegen des Programms „Mutausbruch“.
Wie geht es jetzt mit dem traut euch!-Kinderkoffer weiter?
traut euch!-Team: Die aktuelle Erprobungsphase im Programm „Mutausbruch“ läuft noch bis Ende September 2024. In dieser Zeit werden die Erfahrungen und Konzepte aller beteiligten Module zusammengetragen und ausgewertet. Unser Ziel ist es, „Mutausbruch“ als Gewaltpräventionsprogramm ab Ende 2024 in eine zweite Erprobungsphase schicken zu können. Aktuelle Informationen, auch zu den Möglichkeiten der Teilnahme interessierter Einrichtungen, werden zu gegebener Zeit auf der Website veröffentlicht.
Die Fragen stellte Bernadette Weis
INFO
Füreinander stark machen Präventiv werden Fachkräfte im Programm „Mutausbruch“ darin gestärkt, feinfühlige Beziehungen zu Kindern aufzubauen. Mehr Infos auf:
https://mutausbruch-fuereinanderstark.de