Herr Dr. Koch, welche existenziellen Bedürfnisse von Kindern müssen erfüllt sein, damit zwischen ihnen und ihren Bezugspersonen eine sichere Bindung entstehen kann?
Die Voraussetzung für eine sichere Bindung ist, dass sich das Kind von Geburt an bei seinen Eltern sicher und geborgen fühlt. Was jedoch mehr meint, als dass es dort „gut versorgt“ wird. Die sichere Bindung entwickelt sich vor allem durch den lebendigen Austausch des Kindes mit seinen wichtigsten Bezugspersonen.
Wie können Fachkräfte konkret dafür sorgen, dass der Beziehungsaufbau in der Kita gelingt?
Der angeborene Beziehungswunsch von Kindern und ihre existenziellen Bedürfnisse machen sich auch im pädagogischen Kontext bemerkbar. Es geht darum, ihnen das Gefühl zu geben, sich sicher und geborgen zu fühlen. Das bedeutet auch, dass sich jedes Kind, so wie es ist, anerkannt, wertvoll und wichtig fühlt. Ziel ist es, Kitas zu einem bindungsfreundlichen Ort zu machen.
Wie kritisch sehen Sie in diesem Kontext die oft hohe Fluktuation von Fachkräften?
Insbesondere für jüngere Kinder ist der häufige Personalwechsel in Kita-Gruppen eine besondere Herausforderung. Erzieherinnen und Erzieher sind stets Bezugspersonen, denen sie vertrauen. Geht es ihnen nicht gut, werden die Fachkräfte zu einem „sicheren Hafen“, in dem sie Schutz suchen. Wenn eine solche Bezugsperson „verschwindet“, werden oft Verlustängste getriggert. Daher ist es wichtig, frühzeitig mit Kindern und Eltern über solche Veränderungen zu sprechen, um ihnen diese Ängste zu nehmen.
Sollten Fachkräfte gegenüber den Kindern vor allem eine professionelle Haltung einnehmen oder manchmal auch einfach authentisch sein und ihre Gefühle zeigen?
Zu einer professionellen Haltung gehört auch, eigene Gefühle und Stimmungen zuzulassen. Die Verantwortung für eine gelingende Beziehung liegt aber weiterhin bei der Fachkraft. Daher sollten Gefühle, die sich negativ auf die Beziehung zu einem Kind auswirken könnten, zeitnah und altersgerecht erklärt werden. So lernt das Kind, dass nicht immer alles nach Plan läuft, die Beziehung aber dadurch nicht belastet wird.
Was kann eine Fachkraft tun, wenn es ihr schwerfällt, eine Beziehung zu einem bestimmten Kind aufzubauen?
Es ist ganz normal, dass manche Kinder einem mehr liegen als andere. Das hat häufig mit eigenen Kindheitserfahrungen oder bestimmten Vorurteilen zu tun. Dennoch ist man als jemand, der für alle Kinder die gleiche Verantwortung trägt, angehalten, persönliche Vorlieben soweit es geht zurückzustellen. Gelingt das nicht, sollte man eine Kollegin oder einen Kollegen bitten, sich mehr um dieses Kind zu kümmern.
Sie schreiben im Titelthema dieser Ausgabe, dass auch Kinder mit guten Bindungserfahrungen unglücklich sein können. Was sind Ihrer Meinung nach die Ursachen dafür?
Die Abhängigkeit eines Kleinkindes von seinen ersten Bezugspersonen ist enorm. Aber auch das jüngste Kind muss zunehmend lernen, auch mal allein zurechtzukommen. Dann fühlen sich gerade sicher gebundene Kinder mit der Erfahrung, meistens beachtet zu werden, manchmal einsam, traurig und unglücklich. Positive Bindungserfahrungen helfen jedoch auch dabei, solche kleinen Krisen rasch zu überwinden.
Sie sprechen davon, dass Fachkräfte sich in das Unglück der Kinder einfühlen und Empathie zeigen sollen, wenn diese in ihrer Familie keine tragenden Beziehungen erleben. Wie können Fachkräfte diese emotionale Arbeit leisten und sich gleichzeitig selbst schützen?
Ich denke, dass diese emotionale Arbeit einfach zum Berufsbild von Erzieherinnen und Erziehern gehört. In besonders schweren Fällen von Vernachlässigung oder bei Missbrauchsverdacht müssen sie ihre Verantwortung für das Kind jedoch an entsprechende Fachkräfte delegieren, was sie gleichzeitig vor Ohnmachtsgefühlen und Resignation schützt.
Wie gehen Fachkräfte am besten mit Eltern in den Austausch, wenn sie feststellen, dass sich ein Kind über einen längeren Zeitraum unglücklich fühlt und zusätzliche Hilfe benötigt?
Entscheidend ist, Eltern keine Vorhaltungen zu machen und Schuldgefühle so erst gar nicht aufkommen zu lassen. Zu Beginn des Gespräches sollten positive Aspekte im Vordergrund stehen: „Sie als Eltern kennen ihr Kind am besten. Ich mag ihr Kind und mache mir gerade deshalb Sorgen, weil es in letzter Zeit oft traurig und unglücklich wirkt. Können Sie mir helfen, das besser zu verstehen?“ Ein solcher Gesprächsbeginn wirkt weniger bevormundend und ermutigt die Eltern, sich zu äußern.
INFO
Klassifizierung von Bindungstypen
Neben der sicheren Bindung kennt die Bindungstheorie drei weitere Bindungstypen, deren Einordnung auf Langzeitstudien und experimenteller Beobachtung von Kleinkindern beruht:
Die sichere Bindung entsteht dadurch, dass die primären Bezugspersonen des Kindes von Geburt an feinfühlig auf seine Signale reagieren, sodass es sich angenommen und sicher bei ihnen fühlt. Gelingende Resonanzprozesse stehen dabei im Vordergrund.
Die unsicher-vermeidende Bindung entsteht mit Bezugspersonen, die ihre Kinder gut versorgen, aber deren Gefühlen nur wenig Gehör schenken. Dadurch erlebt das Kind häufig Ablehnung auf emotionaler Ebene und neigt dazu, den Kontakt zu engen Bezugspersonen zu vermeiden und eigenen Gefühlen weniger Beachtung zu schenken.
Die unsicher-ambivalente Bindung entsteht bei Kindern, die von Geburt an mal wohlwollend angenommen und dann plötzlich wieder abgewiesen werden. Das lässt die Welt für sie unsicher erscheinen. Niemals wissen sie genau, woran sie sind, was sich auch auf ihre Beziehung zu anderen Erwachsenen und Kindern überträgt. Oft sind diese Kinder ständig auf der Hut, nicht erneut abgewiesen zu werden.
Die beiden letztgenannten Bindungsmuster sind durch gute Bindungserfahrungen, auch in der Kita, durchaus reversibel.
Die desorientierte Bindung hingegen findet sich vornehmlich bei traumatisierten Kindern. Zu ihnen als pädagogische Fachkraft Zugang zu finden, ist sehr schwer, wenn nicht unmöglich. Nur durch eine Traumatherapie gelingt es den Kindern wieder, eine angstfreie Beziehung zu anderen Menschen aufzubauen.