Margot Käßmann & Nikolaus SchneiderDankbarkeit ist kein frömmelndes Säuseln

Nikolaus Schneider (73) und Margot Käßmann verbindet viel: Sie machten eine erstaunliche Karriere in der Kirche, obwohl sie beide nicht aus Akademikerfamilien stammen. Beide mussten mit Schicksalsschlägen wie schweren Erkrankungen umgehen. Doch die Dankbarkeit im Rückblick auf ihr Leben überwiegt – auch wenn sie nicht ergebenes Hinnehmen von Leid und Ungerechtigkeit bedeutet.

Dankbarkeit ist kein frömmelndes Säuseln
Margot Käßmann und Nikolaus Schneider bei der Vorstellung von Käßmann als Botschafterin für das Reformationsjubiläum, neben einer Lutherfigur des Künstlers Ottmar Hörl.© epd-Bild /Andreas Schoelzel

Mitten im Leben: Wofür sind Sie dankbar?

Nikolaus Schneider: Dankbar bin ich dafür, dass ich ein Grundvertrauen ins Leben behalten durfte. Das ist in glei­cher Weise Gottvertrauen wie Vertrauen zu Menschen. Gottvertrauen ist die Zuversicht, im Leben bei allem Auf und Ab bewahrt zu sein und wenn ich mal aufs Sterben zugehe, dass ich darin gehalten bin und dass ich im Tode in Gottes Hand falle oder bei ihm zuhause bin. Vertrauen zu Menschen sind die vertrauensvollen Beziehungen, die mich tragen. Am wich­tigsten ist da Anne (seine Ehefrau, MiL), mit der ich seit über 50 Jahren verbun­den bin, die mich erträgt, anspornt, mich manchmal bremst, ermutigt; das ist si­cher die wichtigste Beziehung meines Lebens, das Beste, was mir passiert ist. Dann sind es die Kinder, die Enkel, die Freundinnen und Freunde, Menschen, mit denen wir zusammen Kirche gestal­ten. All die haben dazu beigetragen, dass ich als glücklicher Mensch durchs Leben gehen kann. Und es sind die Lebensum­stände zu nennen: 1947 geboren, muss­te ich in unserem Land nicht mit Krieg leben. Ich kann in sozial gesicherten Verhältnissen leben, in einer demokra­tischen Gesellschaft und ich kann trotz meines Alters noch am Leben teilhaben. Nicht zuletzt erfreue ich mich einer ganz ordentlichen Gesundheit.

Margot Käßmann: Nikolaus Schneider und ich haben Ähnliches erlebt: Auch ich bin dankbar, nach 1945 in Westdeutsch­land – als Frau – mit diesen Entfaltungs­möglichkeiten geboren worden zu sein, studieren zu dürfen – wir kommen bei­de nicht aus Akademikerfamilien. Und Kinder, Enkel, Gottvertrauen, Beziehun­gen – wenn du älter wirst, ist es das, wo­ für du wirklich dankbar bist.

Lässt sich Dankbarkeit lernen?

M.K.: Ja (zögert), in der Erziehung: dass deine Eltern dir vermitteln, zum Beispiel ein Dankgebet für das Essen auf dem Tisch zu sprechen, das eben für diese Generation nicht selbstverständlich war. Als Kirchenvertreterinnen und ­-vertreter haben wir viele Länder besucht, in denen es Menschen sehr viel schlechter geht. Das heißt, Dankbarkeit lässt sich auch lernen, indem du siehst, dass Zugang zu Nahrung, Obdach, Gesundheitsversor­gung, Bildung nicht selbstverständlich ist – also durch Lebenserfahrung.

N.Sch.: Ich glaube, es ist wichtig, in Er­ziehung und Bildung zu lernen, dass wir Gefühle haben, sie zulassen und über sie reflektieren; dass wir lernen, es gibt nicht alles sofort. Bei meinen Eltern, aber auch in der Schule habe ich gelernt, es gibt Zeiten, in denen man sich durchbeißen muss, in denen nicht sofort alles klar ist. Oft wird es erst vom Ende her deutlich, wo man landen will: Wir haben einen lan­ gen Atem, wir haben Geduld und können auch auf das eine oder andere verzichten.

Warum bekommt das Nietzsche-Diktum, dass die Christen erlöster aussehen müssen, nach wie vor Beifall? Sind Christen vielleicht undankbarer als ihre nicht-christlichen Zeitgenossen?

N.Sch.: Nein, ich halte dieses Diktum auch für falsch. Es gibt genügend Grün­de, unzufrieden zu sein. Es wäre schreck­lich, wenn wir alles hinnehmen würden und nicht auch protestieren und Ärger bekunden würden. Das Wichtigste ist doch nicht, dass wir erlöster aussehen, sondern zur Mitleidenschaft fähig sind! Immer alles lächelnd hinzunehmen – das wäre Opium fürs Volk. Unser Glaube hilft uns, genau hinzuschauen und unsere Stimme zu erheben. Aber natürlich ken­ne ich auch Christinnen und Christen, die griesgrämige Moralbolzen sind, die in einem angstvollen Gottesverhältnis leben und das Leben nicht genießen können. Ich zitiere lieber Hanns Dieter Hüsch: „Ich bin vergnügt, erlöst, befreit, Gott nahm in seine Hände meine Zeit.“

M.K.: Mir fehlt manchmal, dass die­ se Dankbarkeit auch ausgestrahlt wird, in unseren Gottesdiensten, in unserer Körper­ und Gesichtssprache. Da hat Nietzsche einen Punkt getroffen. In unse­rem Protestantismus fehlt mir manch­ mal eine Heiterkeit und Leichtigkeit: Wir glauben ja nicht an einen Toten, sondern an den Auferstandenen.

Wer sind Ihre Vorbilder in Sachen Dankbarkeit?

N.Sch.: In der Bibel ist es Maria mit ih­rem Magnificat: dieses unbändige dank­ bare Staunen darüber, dass wir Winzlin­ge in diesem Kosmos von Gott angesehen sind und dass er unsere Nähe sucht. Und diese Dankbarkeit ist kein frömmelndes Säuseln. Dann die Schriftstellerin Hilde Domin mit ihrem schweren Schicksal – Fluchten, Entwurzelungen, Neuanfänge –, die Dankbarkeit als das Wichtigste für sich nennen und trotz allem vertrauen kann. Und ich möchte Rabbiner Yehuda Aschkenasy nennen, der in Auschwitz war. Er hatte eine Bibel, die ihn durch alle Zeit getragen hat. Bei einer Synode der Rheinischen Kirche überreichte er mir diese Bibel als Zeichen seiner Dankbar­keit für Neuanfänge. Zu den ganz außer­ ordentlichen politischen Persönlichkei­ten gehört für mich Nelson Mandela: Wie ein Mensch mit seiner Geschichte so für Versöhnung eintreten kann, der mit den Wahrheitskommissionen ja nichts unter den Teppich kehrt! Und Anne ist mir ganz wichtig, aber auch unsere Tochter Meike während ihrer Krebserkrankung.

M.K.: In der Bibel denke ich an Josef, der verraten und verkauft wurde, im Ge­fängnis gelandet ist und sexuell belästigt wurde. Als der Vater stirbt, haben die Brü­der Angst, Josef könne sich rächen; der jedoch sagt: „Ihr gedachtet, es böse zu machen, Gott aber hat es gut gemacht.“ Er schaut auf die Höhen und Tiefen des Le­bens und ist am Ende dankbar. Schon oft habe ich Martin Luther King genannt, der eine tiefe Frömmigkeit mit politischer Ak­tivität zusammenbrachte. Am Abend vor seiner Ermordung sagte er: Heute Abend bin ich glücklich, obwohl er von seiner Gefährdung wusste. Und dann denke ich an meine Großmutter, die dankbar den Choral „Wer nur den lieben Gott lässt wal­ten“ gesungen hat, obwohl ihr Mann ver­schleppt wurde, sie die Heimat verlassen musste, also alles verloren hatte. Sie hat nie gefragt, warum hat Gott das zugelas­sen, sondern: Gott hat mich begleitet. Das hat mir schon als Kind imponiert.

In dem berühmten Lied „Von guten Mächten wunderbar geborgen“ sagt Dietrich Bonhoeffer: „Und reichst du mir den schweren Kelch, den bittern... so nehmen wir ihn dank- bar ohne Zittern“ – was passiert in Ihnen, wenn Sie diesen Vers singen?

N.Sch.: Das verschließt mir den Mund, und zwar wegen des „dankbar“. Was mir an dem Lied gefällt: Es gibt ja diese Kelche, das Leben läuft nicht immer glatt, es gibt ganz ganz schwere Zeiten. Dass Bonhoeffer seinen bitteren Kelch dankbar ohne Zittern aus Gottes Hand nimmt, ist etwas, was ich nicht nur nicht nachvollziehen kann, sondern ablehne. Die Rute auch noch zu küssen, mit der wir geschlagen werden, das geht mir zu weit. Damit leistet man auch schwarzer Pädagogik Vorschub, das will ich nicht.

M.K.: Finde ich gut... Ich denke, es ist immer noch etwas anderes, ob du selbst betroffen bist oder die Menschen, die du liebst. Für mich selbst kann ich leichter Leid annehmen als für meine Kinder und Enkel. Wir dürfen als Christinnen und Christen auch sagen: Es gibt sinn­ loses Leid. Ich möchte nicht in Leid Sinn hineininterpretieren – oder gar Dank­barkeit dafür!

N.Sch.: Jesus hat am Kreuz ja auch nicht gesagt: Danke, lieber Vater, dass ich hier hängen darf.