Margot Käßmann & Alice Schwarzer Es muss über Sexualität gesprochen werden

Dass die Emanzipation in der westlichen Welt in den letzten Jahrzehnten deutlich vorangekommen ist, darüber sind sich die Publizistin Alice Schwarzer (76) und die Pfarrerin Margot Käßmann (61) einig. Ein Gespräch darüber, welche Hürden Frauen weiterhin behindern.

Über Sexualität muss gesprochen werden
Die Journalistin und Publizistin Alice Schwarzer ist die Pionierin der deutschen Frauenbewegung. Als Herausgeberin der von ihr gegründeten Frauenzeitschrift EMMA, in Büchern, Essays und Gesprächen kämpft sie für Frauenrechte.© Bettina Flitner

Mitten im Leben: Wer hat Sie für Ihr politisches Engagement geprägt?

Alice Schwarzer: Meine Großeltern, die ja meine sozialen Eltern waren. Er war ein humorvoller, fürsorglicher Mann. Und sie war eine sehr charaktervolle, politisch scharfsichtige Frau. Beide haben die Nazis gehasst und blieben auch nach 1945 Außenseiter. Bei uns war es selbstverständlich, niemals wegzusehen und immer Schwächeren beizustehen. Menschen wie Tieren.

Margot Käßmann: Sicher zum einen meine Eltern. Sie hatten als junge Menschen Krieg erlebt. Aber dann auch die 68er-Bewegung, die Frauenbewegung, das Engagement gegen den Krieg Anfang der 80er Jahre.

Zwischen Ihnen beiden liegt fast eine Generation. Wie nehmen Sie einander wahr?

 AS: Ich fand es großartig, dass mit Margot erstmals eine hohe Würdenträgerin der evangelischen Kirche so in die Offensive ging! Dass sie klar feministisch war und ist, in ihrer Theologie wie im Leben. Beeindruckend auch, wie sie sich in ihrer Lebensführung nicht hat von Konventionen ersticken lassen. Sich getrennt hat, als ihre Ehe am Ende war, und gleichzeitig ihren Töchtern eine solidarische Mutter geblieben ist.

MK: Für mich ist Alice eine große Vorkämpferin. Sie hat viel abgekriegt an Häme und Hass. Und gleichzeitig habe ich erlebt, wie sie mit ihrem Humor, ihrer Intelligenz, ihrem scharfen Blick auf die Lage Menschen begeistern kann. Wir sind gewiss nicht immer in allem einer Meinung, aber ich habe ganz großen Respekt vor ihrem Mut und ihrer Lebensleistung.

Wie weit sind wir Ihrer Einschätzung nach mit dem Postulat einer „Vermenschlichung der Geschlechter“?

AS: Nun ja. Es ist viel passiert in den letzten 50 Jahren. Wir haben in der westlichen Welt die Emanzipation mit Siebenmeilenstiefeln vorangetragen – mehr, als wir uns damals hätten träumen lassen. Wir sind gleicher geworden. Gleichzeitig spielt es weiterhin in jeder Sekunde eines Menschen eine Rolle, ob er eine Frau ist oder ein Mann. Der andere Blick. Die Gewalt. Die Arbeitsteilung. Es bleibt also noch einiges zu tun. Ganz abgesehen von den Rückschlägen, wie zum Beispiel der Allgegenwärtigkeit der Pornografie.

MK: Einerseits hat sich viel getan! Ich konnte mich als Frau frei entfalten, habe kaum Einschränkungen erlebt. Aber wenn ich sehe, dass Frauen noch immer weniger verdienen als Männer in unserem Land, ist das heftig. Ganz abgesehen davon, dass Frauen in vielen Ländern dieser Welt unter Rechtlosigkeit und Unterdrückung schwer leiden.

Wie lässt es sich christlich/religiös leben angesichts des weltweiten Fundamentalismus?

AS: Alle monotheistischen Religionen haben Tendenz zu einem bedrohlichen Fundamentalismus. Die Juden. Die Christen, wo zum Beispiel 80 Prozent aller Evangelikalen Trump gewählt haben. Vom Islam ganz zu schweigen. Doch hier müssen wir dringend lernen zu unterscheiden: zwischen dem Islam als Glauben, der selbstverständlich zu tolerieren und Privatsache ist – und dem Islamismus als Ideologie. Die fundamentalistischen Muslime nehmen die Religion in Geiselhaft. Und ihre ersten Opfer sind nicht wir, sondern ist die Mehrheit der nicht-scharia-gläubigen, aufgeklärten Muslime. Und das Problem beginnt nicht erst bei der Gewalt, sondern bei der propagierten Schriftgläubigkeit und der Geschlechter-Apartheid. Gerade die evangelische Kirche in Deutschland hat damit ihrer Naivität und ihrer falschen Toleranz Schuld auf sich geladen, indem sie den „Dialog“ bisher vorrangig mit den Falschen, den Schriftgläubigen, geführt und die Mehrheit der Muslime im Stich gelassen hat.

MK: Na, da könnten wir gleich schön streiten…

Wie werden die Kirchen sich durch die Aufdeckung des massenhaften sexuellen Missbrauchs, vor allem in der katholischen Kirche, verändern?

 AS: Sie müssen sich unbedingt verändern! Das ist auch für die Kirchen selbst eine Überlebensfrage. Die Hierarchien müssen abgebaut werden. Denn Missbrauch ist ja nur möglich bei Machtverhältnissen. Und die Kirchen dürfen sich nicht außerhalb des Rechtsstaates stellen.

MK: Es muss offen über Sexualität gesprochen werden, damit es auch Worte gibt für den Missbrauch von Sexualität und Macht. Sexualität als gute Gabe Gottes ist verbunden mit Vertrauen, Verantwortung, Begegnung auf Augenhöhe. Außerdem ist notwendig, dass Straftaten nicht vertuscht, sondern der Staatsanwaltschaft übergeben werden.

Hilft es, sich weiterhin für ein Verbot von Prostitution einzusetzen?

AS: Es ist ein MUSS! Es kann keine menschenwürdige Gesellschaft geben ohne Ächtung von Prostitution und Verbot des Sexkaufes. Das ist eine Frage der elementarsten Menschenwürde – und übrigens auch eine des christlichen Menschenbildes. Deutschland geht da einen skandalösen Sonderweg, und ich frage mich, wie lange noch. In fast allen westlichen Nachbarländern wird der Sexkauf heute nicht nur geächtet, sondern bestraft. Die überwältigende Mehrheit der Frauen in der Prostitution sind Armutsprostituierte oder sogar Zwangsprostituierte. Sie werden verladen und verkauft wie Vieh. Im Angelsächsischen heißt es zu Recht „White Slavery“. Die Frauen in der Prostitution sind die „Verdammten dieser Erde“ von heute. Wir sind in der Pflicht, ihnen beim Ausstieg behilflich zu sein, sowie den Handel und Kauf mit der Ware Frau zu bestrafen.

MK: Es wird allzu gern das Bild der selbstbestimmten Sexarbeiterin gemalt. Die mag es geben. Aber die Mehrheit der Frauen in der Prostitution sind Gewalt und Herabwürdigung ausgesetzt. Da braucht es in der Tat bessere Gesetze. Ein Freier muss sich doch auch fragen, was es bedeutet, wenn die Prostituierte kein Wort Deutsch versteht, Zeichen von körperlicher Gewalt sichtbar sind, sie verängstigt ist, gebracht und geholt wird – da hat er Verantwortung!

Sie haben beide in der „Bild/ Bild am Sonntag“ geschrieben? Wie gehen Sie mit dem Boulevard um?

AS: Ich habe in Bild den Fall Kachelmann kommentiert. Ganz einfach, weil mir keine andere Zeitung das Angebot gemacht hat, und ich über EMMA hinaus diesen spektakulären Prozess begleiten wollte. Und ich bin stolz darauf! Mir ging es dabei weniger – wie immer wieder fälschlicherweise behauptet wird – um die Frage von Schuld oder Unschuld des Angeklagten, sondern darum, dass man nicht a priori davon ausgehen darf, dass das mutmaßliche Opfer lügt. Und das behaupteten ja unisono schon Monate vor dem Prozess die linken und liberalen Blätter. Letztendlich kam der Richter nach acht Monaten Verhandlung zu dem gleichen Schluss wie ich: Es blieb offen, wer gelogen hat. Freispruch. Im Zweifel für den Angeklagten. – Abgesehen davon: Alle schreiben in Bild. Und als sei so ein Boulevardblatt automatisch böse und die sogenannten „seriösen“ Medien seien automatisch gut. Generell sind die Medien in Deutschland in Sachen Emanzipation sehr viel rückschrittlicher als die Menschen.

MK: Ich kann jeden Sonntag in der Bild am Sonntag eine Kolumne schreiben und Menschen einen Bibelvers mit auf den Weg geben. Das sehe ich als Chance. Dabei behalte ich die Freiheit, vieles am Boulevard kritisch zu sehen, vor allem, wenn Menschen bloßgestellt werden.