Zur Person
Claudia Roth, geboren 1955, ist seit 2013 Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages. Die ehemalige Managerin der Band „Ton Steine Scherben“ trat 1987 in die Partei „Die Grünen“ ein. Sie war u. a. Mitglied des Europäischen Parlaments, Vorsitzende des Bundesausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe, Parteivorsitzende und Beauftragte der Bundesregierung für Menschenrechtspolitik im Auswärtigen Amt.
Woher kennen Sie beide sich?
Claudia Roth: Persönlich durch die Tochter von Margot Käßmann, die eine Zeit lang in der grünen Bundestagsfraktion gearbeitet hat. Und natürlich sind wir uns oft bei Veranstaltungen begegnet. Das wird etwa zehn Jahre her sein.
Margot Käßmann: Wir haben uns beide über den Augsburger Bischof Walter Mixa geärgert wegen dessen Ausdruck „Gebärmaschinen“ für berufstätige Mütter.
CR: Oh ja, Bischof Mixa hat in Augsburg regelrecht Regiment geführt. Wir sind immer wieder aneinandergeraten.
Frau Roth, auch Sie haben Geschwister, zwei jüngere Schwestern. Wie hat Sie das geprägt?
CR: Meine Schwestern sind Zwillinge. Das war lange Zeit nicht gerade harmonisch, denn immer standen zwei gegen eine – mich. Die beiden hatten ihre eigene Sprache, haben immer zueinander gehalten. Da bin ich rückblickend gern auch mal recht autoritär geworden (lacht). Letztlich war es ein Geben und Nehmen: Ich habe die beiden vom Kindergarten abgeholt, auf sie aufgepasst, den Ton angegeben – aber ich war auch die Kindersprecherin zuhause. Wenn irgendwas mit den Eltern zu klären war, haben sie mich vorgeschickt. Zu Beginn jedenfalls fühlte ich mich ungerecht behandelt. Ich musste mit meinem Vater zum Männerfrisör, ratzfatz, während meine Schwestern in Rosensamtkleidchen für ihre rotblonden Locken mit Schleifchen bewundert wurden. An mich wurden größte Leistungs- Anforderungen gestellt, während für die Schwestern anderes in der Schule galt. Dann aber wurde mir irgendwann bewusst: Die beiden hatten es auch nicht leicht; für vieles gab es Gründe, die ich erst später verstanden habe. Immer wieder hat uns zudem die Außenwelt zusammengeschweißt. Wir sind in einer sehr konservativen katholischen Umgebung aufgewachsen, mit liberalen Eltern. Weil die nicht regelmäßig zu Sonntagsgottesdienst gingen, bekam ich schlechte Noten in Religion. Da hält man als Familie zusammen. Und heute haben wir ein sehr enges Verhältnis. Spätestens seit dem Tod meiner Eltern sind sie mir wichtigster Anker und Familie.
MK: Tja, da hatte ich es als Jüngste wirklich leichter und mehr Freiräume!
Sie gelten beide als sehr disziplinierte Arbeiterinnen: Müssen Frauen mehr leisten als Männer?
CR: Jürgen Trittin hat mich mal als die preußischste Grüne bezeichnet. Gut vorbereitet sein, sich immer wieder hinterfragen, das ist Vorteil und gleichzeitig Nachteil für Frauen. In jedem Falle beobachte ich einen Rollback. Der Frauenanteil im Bundestag ist auf das Niveau von 1998 zurückgefallen; weltweit versuchen übelste Maskulinisten sich zurückzuholen, was ihnen nicht gehört. Statt den Wert emotionaler Intelligenz und sozialer Kompetenz zu sehen, gelten Frauen immer noch als zu verletzlich und schwach – oder eben als zu bunt, schrill, laut. Und einen weiteren erheblichen Unterschied gibt es: Zwar werden auch Männer beleidigt, in Emails, in den sozialen Netzwerken; bei Frauen aber kommt gerade von rechtsautoritärer, von völkischer Seite systematisch eine sexualisierte Ebene hinzu, bis hin zu Vergewaltigungsfantasien.
MK: Wenn die AfD in einem Adventskalender jeden Tag einen weißen Mann als die am meisten unterdrückte Minderheit zeigt, ist das eine Verzerrung der Realität. Weiße Männer sind nun wirklich am wenigsten diskriminiert! Es gibt einen neuen Macho-Ton, von dem ich dachte, in meiner Generation sei er überwunden. Auch in der Kirche haben es die Frauen bis heute schwer. Bis 1977 mussten Frauen ihre Ordinationsrechte abgeben, wenn sie heirateten! Kann sie leiten, kann sie sich durchsetzen, was zieht sie an, das sind Fragen, die nur Frauen gestellt werden.
Wie gehen Sie mit Hassattacken um?
MK: Mittlerweile übergebe ich diejenigen, die strafrechtlich relevant scheinen, einem Anwalt, der sie nach Prüfung an die Staatsanwaltschaft weiterleitet. Bei manchen denke ich: Lass den Idioten seiern. Mit einzelnen versuche ich zu argumentieren. Und bei einigen drücke ich die Delete-Taste. Ich muss nicht alles lesen.
CR: Tatsächlich versuche ich auch, das anzuzeigen, was geht. Allerdings höre ich immer wieder: Die Drohung steht doch im Konjunktiv – „sollte, könnte, müsste“ aufgehängt, erstochen, totgefickt werden. Gegen die Anschuldigung beispielsweise, ich habe damals „in Köln mittelbar mitvergewaltigt“, habe ich geklagt und verloren, auch wegen des „mittelbar“. Die Rechtsprechung ist da aber konsequenter geworden. Es erreichen mich sogar Bitten um Einstellung des Verfahrens, denen ich bisweilen stattgebe, wenn die Entschuldigung glaubwürdig klingt. Dennoch: Die Belastung bleibt, für mich persönlich, aber auch für mein Team, das vieles aussortiert. Immerhin reden wir da phasenweise von tausenden Mails, Facebook-Kommentaren und Anrufen in wenigen Tagen. Ganz abschotten möchte ich mich dennoch nicht. Ich will keinen Panzer um mich bauen, dann bin ich nicht mehr Claudia. Also sage ich immer und immer wieder: Ich schenke euch nicht meine Angst!
Wie soll das Gespräch mit Rechtspopulisten geführt werden, brauchen wir einen Linkspopulismus?
MK: Der britische Journalist James O'Brien ermuntert seit Jahren in täglichen Radiotalks seine Anrufer, ihre Meinung on air begründet vorzutragen. Einen Fundamentalisten fragte er einmal 27 Mal, wo Jesus in der Bibel etwas zu Homosexualität sage - vergeblich. Wenn Populismus heißt, dass ich die Tatsachen verkürze und nicht mehr mit dem anderen argumentativ umgehe, dann ist Populismus wirklich falsch. Wenn es heißt, du bist nah am Volk und redest so, dass Menschen dich verstehen, ist das was anderes. Wir müssen die demokratischen Kräfte sammeln! „Wir sind mehr“ ist eine richtige Kampagne. Ich bin überzeugt, es gibt viele, die sagen, so kann das nicht weitergehen mit den Trumps, Putins, Orbans und Erdoğans. Und da werden auch die Frauen eine Rolle spielen. Mit 50 Prozent Frauen in den Parlamenten, Vorstandsetagen, auch Kirchen ändert sich was. Wobei ich nicht sagen will, Frauen seien die besseren Menschen.
CR: Wir müssen unterscheiden. Einerseits hat es kaum Sinn, mit denen zu reden, die komplett in Gegnerschaft oder überzeugt rassistisch sind. Und ich sehe es auch kritisch, deren Wortführern ständig eine Bühne zu geben: Rassismus und Hass sind keine Meinung und gehören auch nicht in eine Talkshow; sie sind und bleiben Rassismus und Hass. Anders ist es mit Diskussionsveranstaltungen, bei denen es um Inhalte geht, bei denen du merkst, es gibt einen Battle um die besseren Argumente. Ich halte es deshalb wie Margot Käßmann: Populismus, wie ihn ja auch Sahra Wagenknecht versucht hat: Nein. Wenn es aber ums Populärmachen geht – von Artikel 1 unseres Grundgesetzes, von der Errungenschaft eines 70-jährigen Friedens in Europa, vom Reichtum der Meinungsfreiheit – dann sehr gern!
Was sind die drei größten politischen Herausforderungen der nächsten Jahre?
CR: Demokratie als Grundlage für den Zusammenhalt in unserer Gesellschaft; die Verteidigung, aber auch Reform unseres gemeinsamen Europas; die konsequente Bekämpfung der Klimakrise.
MK: Klima, Armut, besonders der Alleinerziehenden und Alten, und das, was Naika Foroutan als „postmigrantische Definition von Deutschsein“ postulierte. Wie wollen wir hier zusammenleben? Einer mit Springerstiefeln und Glatzkopf, der grölt, ist für mich nicht integriert.
Frau Roth, was erwarten Sie von den Kirchen?
CR: Ich bin mit Zustimmung meiner sehr frommen Oma zur Zeit von Wojtila aus der Kirche ausgetreten, der Institution wegen. „Das Weib schweige in der Gemeinde“ – meine Oma hat verstanden, dass das nicht ging für mich. Aber ich erwarte viel von den Kirchen, und sie spielen ja auch eine wichtige gesellschaftliche Rolle. Kirchenasyl, Flüchtlingshilfe, soziale Fürsorge durch kirchliche Träger – die Kirchen tun viel und haben immer noch große Bindewirkung. Klar, bei den Frauenrechten, der Ehe für alle, beim Thema Abtreibung mögen wir so schnell nicht zusammenkommen; aber häufig ziehen wir doch am selben Strang. Als die AfD ihren Parteitag letzten Sommer in Augsburg abhielt, waren die Kirchen offen. Und in einer Reihe mit Friedensbewegten, Eine-Welt-Engagierten, Feministinnen und Links-Grünen standen da Nonnen mit Plakaten wie „Augsburg ist bunt und vielfältig“.