„Ich habe teilen gelernt“

Wenn Kinder von Geflüchteten gefördert werden, haben sie gute Aussichten. Das Ehepaar Hess aus dem oberpfälzischen Weiden bietet seit über 30 Jahren Hausaufgabenbetreuung für Kinder aus unterschiedlichsten Ländern – und hat so zu einem besseren Miteinander in der Stadt beigetragen.

Margot Käßmann bei einem Besuch im Weiden© Christel Kovermann, Terre des hommes

Mitten im Leben: Warum engagieren Sie sich für terre des hommes und in der Flüchtlingshilfe?

Ursula Hess: Ich bin in einer Familie mit acht Kindern aufgewachsen und hatte eine sehr liebe Mutter. Wir konnten immer Freunde mitbringen, obwohl wir lange Zeit in einer Zwei-Zimmer-Wohnung bescheiden lebten. Ich habe teilen gelernt. In den 70er Jahren lernten mein Mann und ich bei einem Kinderfest terre des hommes kennen. Der Gedanke „Erde der Menschlichkeit“ – die Menschenrechte, die Rechte der Kinder – kam uns entgegen; wir hatten selbst drei Kinder – und wir gründeten dann 1981 in Weiden eine Arbeitsgruppe von terre des hommes. Die Flüchtlingsarbeit begann 1985 mit der Zuweisung der ersten Flüchtlinge nach Weiden. Der Begriff „Nie wieder“ war uns wichtig, denn die weitgehend ablehnende Haltung im Umfeld gegenüber den Flüchtlingen erinnerte uns an unsere deutsche Vergangenheit. Wir hatten früher viel mit unseren Eltern diskutiert, warum sie das damals zugelassen haben.

 

Margot Käßmann: Ich habe das Engagement als Botschafterin für terre des hommes spontan zugesagt, weil ich weiß, dass meine Kinder und Enkelkin- der in privilegierten Verhältnissen aufwachsen. Wenn ich etwas weitergeben kann für Kinder, die Not leiden, dann tue ich das sehr gerne.

Mitten im Leben: Bitte schildern Sie eine eindrücklich positive Geschichte aus Ihrer Arbeit!

 Jost Hess: Für eine siebenköpfige kurdische Familie aus der Türkei, Jesiden, die Eltern Analphabeten, konnten wir in zweifacher Hinsicht Gutes bewirken: Wir konnten zum einen mit dazu beitragen, dass das Bundesverwaltungsgericht Jesiden aufgrund ihrer schlimmen Situation in der Türkei eine Gruppenverfolgung zuerkannten. Und alle fünf Kinder der Familie sind vom ersten Tag an vormittags in die Schule gegangen und nachmittags regelmäßig in unsere Hausaufgabenbetreuung gekommen. Alle Kinder sind erfolgreich in unserer Gesellschaft: Ein Junge ist Rechtsanwalt, ein anderer arbeitet in der Entwicklungsabteilung von Mercedes, ein Mädchen ist Kinderkrankenschwester...

MK: Zarah Kameli, eine junge Frau aus dem Iran, war in Abschiebehaft in Hannover, wo ich sie als Bischöfin besuchen konnte. Wir hatten alles versucht, um die Abschiebung zu verhindern – erfolglos. In Frankfurt, von wo aus sie nach Teheran ausgeflogen werden sollte, hat sich der Lufthansa-Pilot geweigert, sie mitzunehmen. Da sie sich von ihrem Mann getrennt hatte und in Göttingen zum Christentum übergetreten war, war sie in ihrem Herkunftsland auch gefährdet. Ihr „Fall“ hat dazu geführt, dass in Niedersachsen endlich eine Härtefallkommission ermöglicht wurde.

Mitten im Leben: Was hat Sie in Ihrem Engagement bedrückt?

J.H.: Abschiebungen bedrücken uns, aktuell Anfang Juni: eine Familie mit einem schwerst körperlich und geistig behinderten Mädchen im Rollstuhl. Ihr zwölfjähriger Bruder war bei uns in der Hausaufgabenbetreuung und hat sich gut in die Schule eingefügt. Und dann trotz aller Eingaben wird die Familie nach fünfeinhalb Jahren in Deutschland abgeholt, der Junge von der Polizei vom Schulgelände, nach München gebracht und abgeschoben. Das ist zutiefst deprimierend, denn für den Jungen war Weiden doch seine Heimat geworden!

MK: Was mich derzeit bedrückt, sind die Anfragen an Menschen, die zum Christentum konvertieren. Menschen aus Kirchengemeinden, die Flüchtlinge zu den Verfahren begleiten, berichten, dass die Fragen fast absurd sind. Etwa: „Wie heißen die beiden Söhne im Gleichnis vom Verlorenen Sohn?“ Diese Frage kann niemand beantworten, denn sie werden in der Bibel gar nicht benannt! Eine staatiche Stelle kann nicht den Glauben von Menschen testen, finde ich.

Mitten im Leben: Wie nehmen Sie die Resonanz in Ihrem sozialen Umfeld wahr?

U.H.: In den ersten Jahren unserer Flüchtlingsarbeit hatte ich Angst, zum Telefon zu gehen, weil wir auch sehr persönliche Anfeindungen erleben mussten. Auch mit den Schulen hat es anfangs nicht sehr gut funktioniert. Mittlerweile aber hat sich das Klima sehr zum Positiven verändert. Zum Beispiel leisten Schülerinnen aus einem Mädchengymnasium mit einem sozialen Zweig ihr Praktikum bei uns ab. Und der Arbeitskreis Asyl hat in Weiden ein großes Netzwerk von etwa 250 Menschen gegründet.

J.H.: In einer Stadtratssitzung sagt der Oberbürgermeister wörtlich: Ohne die Arbeit des Arbeitskreises Asyl wäre das Klima in der Stadt kälter.

M.K.: Die Kirchengemeinden in der gan- zen Republik, die Asyl geben und seit langem viel für den sozialen Frieden tun, geraten zunehmend unter Druck. Pfarrerinnen und Pfarrer werden angeklagt. Das ist ein Rückschritt.

Mitten im Leben: Was wünschen Sie sich für Ihre zukünftige Arbeit?

J.H.: Wir sind beide über 70. Die tägliche Betreuung ist sehr umfangreich, manchmal belastend. Wir wünschen uns, dass wir Menschen finden, die diese Arbeit für Menschen in Not in ähnlicher Weise fortsetzen. Das ist nicht einfach.

M.K.: Ich wünsche mir, dass das Engagement von terre des hommes weltweit weitergeht. Und politisch wünsche ich mir, dass den Menschen, die bei uns schon integriert sind, ein Weg geöffnet wird, zu bleiben. Denn wir brauchen Zuwanderung von Arbeitskräften, zum Beispiel in der Pflege.