Sie sind Redaktionsleiter, Sie Herausgeberin vom Asphalt-Magazin: Wie kamen Sie zu diesen Funktionen und was ist Ihre Mission dabei?
Volker Macke: In einer Notlage des Blattes wurde ich vor 15 Jahren gebeten auszuhelfen und bin geblieben. Vorher war ich Wissenschaftsredakteur. Wir haben „Asphalt“ umgekrempelt und professionalisiert, und das hat mit der Mission zu tun: Es geht um Respekt und Würde auf der Straße und beides wird nur erreicht, wenn die Verkäufer mit den Kunden ein Geschäft auf Augenhöhe abschließen können. Darum geht es bei allen Straßenzeitungen: dass die Leute nicht mehr betteln müssen, kein Von- unten-nach-oben-Gucken, kein Almosen, keine vorbeieilenden Füße. Und ich muss für die größtmögliche Güte im journalistischen Bereich sorgen, damit dieses Sichtbarsein klappen kann, dieses Produkt-anbieten-Können, denn das ist der Anfang von Stabilisierung.
Margot Käßmann: Ich kenne „Asphalt“ schon aus meiner Zeit als Landesbischöfin, die Kollekte beim Einführungsgottesdienst 1999 ging an dieses Projekt. Es hat mich immer begeistert. Das wünsche ich mir von Diakonie, dass sie Menschen als Subjekte ihres Lebens sieht und sie nicht zu Objekten macht. Also, ja, die Augenhöhe. Und: Menschen sollten die Zeitschrift nicht nur kaufen, um Obdachlose zu unterstützen, sondern weil sie der Inhalt interessiert – und den finde ich auch wirklich gut.
Über wen schreiben Sie und für wen?
V.M.: Wir schreiben Geschichten, Interviews, Analysen, wie sie im „Stern“ oder auf der Seite 3 einer Tageszeitung stehen könnten, und wollen für viele Menschen interessant und „kaufbar“ sein, um die Augenhöhe herstellen zu können. Ansonsten hätten wir Charity. Darüber hinaus haben wir diese besondere Wächterfunktion in Sachen Armut und Obdachlosigkeit. Als Sprecher der Straßenzeitungen kann ich sagen: Das ist unser aller Anspruch, es geht um Advokatenjournalismus, das heißt, aufzupassen, wenn was schief läuft in der Versorgung von Wohnungs- und Obdachlosen.
M.K.: Durch diese Recherchen bekommen Menschen Namen und Gesichter, die du in anderen Zeitungen nicht siehst. In der aktuellen Ausgabe zum Beispiel die Lage der Prostituierten in der Corona-Krise. Oder der Mann, der über eine Fahrradwerkstatt, in der du dein Fahrrad waschen und reparieren lassen kannst, wieder Zugang zum Arbeitsmarkt gefunden hat.
Reichen staatliche Angebote nicht aus?
V.M.: Nein, überhaupt nicht! Für Langzeitarbeitslose, Gestrauchelte und Gestrandete – so nennen wir die Menschen – gibt es kaum Angebote, auch die o.g. Fahrradwaschstraße ist keine staatliche Einrichtung. Die, die Anspruch auf Transferleistungen haben, versauern in ihrer Armut, ihren Wohnheimen, in ihren kleinen Sozialwohnungen, werden depressiv oder sind es bereits, teils süchtig. Und dann gibt es die, die keine Grundsicherung haben, zum Beispiel die vielen Wanderarbeiter aus Osteuropa. Die verelenden sichtbar für uns alle auf offener Straße. Es fehlt definitiv an einem niedrigschwelligen zweiten und dritten Arbeitsmarkt – und es fehlt eine Sozialunion in Europa, was diese Probleme ja erst herstellt. Da ist also ein großes Vakuum im staatlichen Angebot.
M.K.: Der Staat ermöglicht ja keine Begegnung. Verkäufer erzählten, wie froh sie waren, jetzt nach einer gewissen Lockerung wieder Sozialkontakte zu haben. Auch die Privilegierten wie ich haben so die Möglichkeit zur Begegnung. Denn es gibt eine Hemmschwelle, etwa wenn du aus dem Hinterausgang des Bahnhofs in Hannover kommst und das ganze Elend siehst. Beim Kauf der Straßenzeitung kannst du schon mal unbefangen fragen: Wie geht’s? Was ist los?
V.M.: ... auch den Verkäufern ist es wichtig, mal ihrerseits hören zu können, wie es den Kunden geht!
Kritiker werfen dem politischen Christentum vor, es würde sich „nur“ für Randgruppen engagieren. „Normale“ Bürgerliche gerieten dagegen eher unter Verdacht – als „weiße alte Männer“, als Ressourcenverschleuderer etc. Was entgegnen Sie solchen Vorwürfen?
M.K.: Matthäus 25, das reicht. Wo begegnest du Jesus? Da, wo du Menschen ohne Obdach ins Haus holst, mit Hungrigen das Brot brichst, Fremde beherbergst. Alle können da gerne mit dabei sein.
V.M.: Die Goldene Regel verlangt ja zumindest einen Perspektivwechsel, indem ich mir anschaue, wie es dem anderen geht, in welcher Situation er/sie ist. Ich bin da ganz hoffnungsvoll, wenn jeder Christ, jede Christin diesen Perspektivwechsel vollzieht, ergibt sich der Rest. Kirche kann keine Kirche sein, ohne diakonisch zu sein, wie der Asphaltgründer sagte. Im Übrigen werden Straßenzeitungen zu 0 % von Kirchensteuern finanziert.
Schwerpunkt dieser Ausgabe ist das Thema „Ausgrenzung“. Was sind Ihrer Ansicht nach die Hauptgründe dafür, dass jemand in die Ausgrenzung, zum Beispiel der Obdachlosigkeit, gerät?
V.M.: Das hat zwei Seiten, die persönliche und die gesellschaftliche. Das hat nichts mit Schuld zu tun. Auf der einen Seite führt das Fehlen von Problemlösungskompetenzen zu Abwärtsspiralen. Nicht alle Menschen haben aus verschiedenen Gründen die gleichen Fähigkeiten zur Problemlösung, und wenn sie fehlen, werden Menschen früher oder später in besonderen Situationen, bei Schicksalsschlägen beispielsweise, aus der Bahn geworfen. Sucht ist ein Problemlösungsversuch, der aber eher zum Katalysator für Obdachlosigkeit wird. Auf der anderen Seite gibt es diese ganze Teilnahmslosigkeit und Entsolidarisierung aufgrund steigender allgemeiner Unsicherheit in der Gesellschaft. Abschätziges Reden über Menschen am Rande, auch verklausuliert in sogenannten Sauberkeitskampagnen in Tagesmedien, machen Stimmung. Die führt dazu, dass wie jüngst in Dortmund geschehen Bußgelder von € 200,– pro Person verhängt wurden, als zu Corona-Zeit drei Obdachlose zusammen auf einer Bank saßen – was faktisch Ersatzfreiheitsstrafe, also Gefängnis, bedeutet, denn sie haben dieses Geld nicht. So einen Ordnungsdezernenten hätte man vor 10, 15 Jahren noch vom Hof gejagt.
M.K.: Die Geschichten zeigen auch, wie schnell eine Abwärtsspirale in Gang gesetzt werden kann: Jemand verliert seine Arbeit, die Suchtproblematik kommt dazu, er kann die Miete nicht mehr bezahlen, fliegt aus seiner Wohnung. Er kann sich nicht mehr anständig waschen und anziehen, bekommt keine Wohnung mehr, weil er keinen Arbeitsnachweis hat. Da soll niemand sagen, das könnte mir nie passieren, vor allem, wenn Menschen auch familiär völlig isoliert sind.
Was muss passieren, damit jemand wieder zurückkommt in ein Leben mit Obdach?
V.M.: Vorab: Obdach ist der falsche Begriff. Ziel ist menschenwürdiges Wohnen. Da gibt es eine staatliche Verantwortung, ausreichend Wohnungen zu beschaffen, damit nicht länger der Markt über das sozial Mögliche bestimmt. Dann gibt es besondere Projekte, Housing first z.B., das dezentrale Wohnen für Obdachlose mit ambulanter Versorgung. Für jeden Einzelnen muss gefragt werden: Was braucht er? Empowerment ist das Stichwort, immer wieder eine Chance geben, die Menschen immer wieder bei ihren Fähigkeiten abholen. Sie müssen ihre Würde und ihren Respekt wiederfinden, und das geht nur, indem sie sich ihn selbst holen.
M.K.: Daher bietet Asphalt eine soziale Begleitung an! Corona hatte insofern auch etwas Positives, als in Hannover Menschen ohne Obdach eine Zeitlang in der Jugendherberge leben konnten, mit eigenem Zimmer und Bad, und wieder eine Struktur finden konnten. Das müsste der Staat doch auch ohne Corona gewährleisten können.