Mitten im Leben: Sie beide werden auf der Straße erkannt. Wie gehen Sie mit Ihrem „öffentlichen“ Körper um?
Raul Krauthausen: Das ist tagesformabhängig. Mal versuche ich, kein großes Aufsehen darum zu machen, da fühle ich mich ein bisschen ertappt; manchmal bin ich überrascht, weil die Fremdwahrnehmung nicht mit der Selbstwahrnehmung deckungsgleich ist. Ich empfinde mich nicht als öffentliche Person. Und dann gibt es die für mich noch ungewohnte, ja unbeholfene Situation, in der jemand sagt, „ich habe Sie im Fernsehen gesehen“, und ich weiß nicht genau, was ich darauf antworten soll: Ja, stimmt, oder: danke? Die Leute meinen das nicht böse, so etwas enthält immer eine Wertschätzung; ich habe eher Angst, der Situation nicht gerecht zu werden.
Margot Käßmann: Den Begriff „öffentlicher Körper“ empfinde ich als etwas unangenehm. Natürlich erkennen mich ab und zu Menschen, und in der Regel ist das ein freundliches „Ach, hallo, Frau Käßmann“, damit geht’s mir gut. Manchmal aber auch nicht, wenn ich denke, das ist jetzt privat.
In der Bibel heißt es: „Danke, dass ich wunderbar gemacht bin.“ Können Sie dem zustimmen?
R.K.: Nein. Mit diesem Satz kann ich mich nicht identifizieren. Ob man wunderbar ist oder nicht, das haben andere zu beurteilen. Sich selber als wunderbar zu bezeichnen, finde ich persönlich immer schwierig. Als Atheist bin ich nicht bibelfest; ich kannte diesen Satz nicht. Steckt in diesem „Danke“ auch eine Art Schuld? Muss ich wunderbar sein, weil man mir das Leben gab? Stehe ich bei irgendjemandem in der Schuld? Oder lebe ich einfach, weil das die Biologie ist?
M.K.: Viele Menschen hadern damit, wie sie sind. Ich kann diesen Satz als glaubender Mensch nur so verstehen: Danke, dass ich Lebenszeit habe, dass du, Gott, mir Lebenszeit geschenkt hast. Wunderbar gemacht – der Mensch ist schon erstaunlich als Wesen, er kann denken, darf fühlen. In der Bibel werden nie perfekte Menschen dargestellt, immer Menschen mit ihren Mängeln, ihren Fehlern, ihrem Scheitern. Dafür bin ich dankbar, dass nach der Bibel Menschen keine Schuld auf sich laden, wenn sie nicht perfekt sind.
Wie gehen Sie mit Krankheit um? Und: Wie ist es Ihnen in der Corona-Zeit ergangen?
R.K.: Ich bin kein Mensch von Ängstlichkeit. Diese Corona-Zeit ist für mich eine der Vorsicht, nicht der Angst. Ich bin drei Monate nicht ins Büro gegangen, arbeite aber, versuche, Kontakte zu reduzieren, aber nicht zu vermeiden. Meine Mutter sagte zu mir als Kind immer, ich wäre ein Stehaufmännchen. Nach jeder Krankheit, nach jedem Unfall hätte ich weitergemacht, als wäre das nur Staub von der Schulter Wischen. Der Lebenswille ist bei mir doch sehr dominant.
M.K.: Wenn ich krank bin, dann fällt mir jedes Mal auf, dass ich es nicht genug wertschätze, wenn ich gesund bin. In der Corona-Zeit wollte ich eine Balance finden zwischen der Panik, die manche hatten, und der Sorglosigkeit anderer, also eine Haltung der Besonnenheit.
Zwei Seelsorger, die Bischöfin und der ehrenamtliche Telefonseelsorger: Was sind Ihrer Erfahrung nach die größten Seelendrücker der Menschen, die sich an Sie wenden?
R.K.: Ich mache die Seelsorgearbeit nicht mehr, weil das oft Nachtschichten waren, was ich mit meinem Alltag nicht mehr überein brachte. Was mich damals aber bewegt hatte, war zu sehen, dass die größte Sorge der Menschen die Einsamkeit ist, wesentlich größer als die Sorge um die Gesundheit. Das hat mir sehr zu schaffen gemacht, die Einsamkeit geht durch alle Gesellschaftsschichten, jung – alt, arm – reich, Mann – Frau. Diese „Volkskrankheit“ haben viele nicht auf dem Schirm. Wenn ich dann morgens um 6 Uhr aus der Schicht kam und die Lichter in den Fenstern sah, dann fragte ich mich, wer von denen hinter den Fenstern ist gerade einsam und hat vielleicht angerufen? Das hat mich sehr demütig gemacht.
M.K.: Das kenne ich auch... Und verletzte Beziehungen möchte ich ergänzen, von Paaren, Eltern Kindern, die Trauer darüber, dass Beziehungen brechen, und die Einsamkeit, die oft als Konsequenz daraus entsteht. Gerade in der Corona-Zeit war Einsamkeit – vor der alle Angst haben, für die sie sich schämen? – ja das große Thema.
R.K.: Das wird in den Medien kaum diskutiert. In Großbritannien gibt es ein Ministerium für Einsamkeit!
Sie beide engagieren sich energisch für Sozialprojekte. Sie, Herr Krauthausen, haben den Verein „Sozialhelden“ gegründet. Wer ist Ihr derzeitiger Sozialheld?
R.K.: Ich bin sehr inspiriert von der US Richterin Ruth Bader Ginsburg (geb. 1933), die ihre Karriere damit begann, dass sie gegen Geschlechterdiskriminierung in der US-Verfassung gekämpft hat. Sie war lange verschrien als Männerhasserin, hatte dann aber in einem Prozess einen Mann vertreten, der als Alleinerziehender Elterngeld beantragt hatte, was damals nur Müttern zustand. Sie ist deswegen ein Vorbild für mich, weil ich auch in meinem Kampf für Inklusion und Barrierefreiheit davon überzeugt bin: Wir kommen nur dann zum Ziel, wenn wir der Mehrheitsgesellschaft klarmachen, dass es nicht um 10 Prozent der Bevölkerung geht, sondern dass Barrierefreiheit allen Menschen gut tut. Aufzüge benutzen wir alle, für Untertitel bei Net ix sind wir alle dankbar, wenn wir die Sprache nicht beherrschen.
M.K.: Meine Sozialhelden sind derzeit die Verkäuferinnen und Verkäufer von „Asphalt“, der Straßenzeitung in Niedersachsen. Die hatten es sehr schwer. Im April gab es keine Ausgabe. Und Hygieneregeln sind kaum einzuhalten, wenn du keine Wohnung hast. Jetzt dürfen sie wie der verkaufen.
In welchen Bereichen wünschen Sie sich mehr Zivilcourage? Oder braucht es mehr staatliches Reglement?
R.K.: Ich beobachte mit Sorge: Mit der Neoliberalisierung unserer Gesellschaft wird immer mehr soziales Engagement in die Privatwirtschaft ausgelagert. Wir sehen das an den Tafeln. Deren Zunahme ist Symptom eines Problems. Mitarbeiter* innen des Sozialamts empfehlen mittlerweile, zu den Tafeln zu gehen, wenn Hartz 4 nicht ausreicht. Das ist ein verstecktes Outsourcing. Das gibt es auch in anderen Bereichen, in der Seelsorge beispielsweise. Da wünsche ich mir von der Zivilgesellschaft, dass wir klare Forderungen an die Politik formulieren, um eine bessere strukturelle Finanzierung der Infrastrukturen zu bekommen und nicht immer alles auf Ehrenämter auszulagern.
M.K.: Ja, das würde ich teilen. Und bei der derzeitigen George-Floyd-Debatte denke ich, wir brauchen mehr Zivilcourage mit Blick auf Ausgrenzung von Menschen, die den Vorstellungen anderer nicht entsprechen. Ich habe gerade von einer jungen Frau aus Hannover gelernt, nicht von Rassismus, sondern von Ausgrenzung zu sprechen: Ihr Vater stammt aus Nigeria, ihre Mutter aus Deutschland. Als gebürtige Hannoveranerin wird sie gefragt, woher sie denn komme... Und die Ausgrenzung aufgrund von Religion, Geschlecht, Hautfarbe, „Anderssein“ steigt.
R.K.: Eine der Floskeln, mit denen ich mich konfrontiert sehe, lautet: Wir müssen erst die Barrieren in unseren Köpfen abbauen. Diese Auffassung teile ich nicht. Denn es macht die Menschen, die vorher noch nie mit dem Thema Behinderung zu tun hatten, zu dummen Menschen, als müssten sie den Umgang mit behinderten Menschen erst lernen. Sie sind doch empathisch genug zu begreifen, was o.k. ist und was nicht! Wenn jeder Behinderte erst einmal Aufklärungsarbeit in den Schulen oder im Fernsehen machen muss – so lange diskutieren wir nicht über Ungerechtigkeiten, über Diskriminierung am Arbeitsmarkt, über Barrierefreiheit bei der Deutschen Bahn. Das müssen Rechte sein und nicht Freiwilligkeiten im Sinne von Aufklärung. Wir halten uns mit der falschen Frage auf.