Margot Käßmann & Gregor GysiRespekt vor harter Arbeit

Er kommt aus einer bildungsbürgerlichen Familie und hat Rinderzüchter gelernt. Sie ist die Tochter einer Krankenschwester und in einer Kfz-Werkstatt aufgewachsen. Als Bischöfin und Linken-Politiker sind beide immer wieder in Diskussionsrunden aufeinander getroffen. Gregor Gysi (72) und Margot Käßmann über Religion, Arbeit und Frauen.

Respekt vor harter Arbeit
Vielleicht ist es dieser Wille, im Verteidigen der Menschlichkeit einiges zu riskieren, der Margot Käßmanns Wirken prägt.“ So Gregor Gysi in einem Buch anlässlich des 60. Geburtstags von Margot Käßmann.© Markus Lanz, Gregor Gysi, Margot Käßmann in der Sendung „Markus Lanz“ © ZDF/Cornelia Lehmann

Mitten im Leben: Der agnostische Linken-Politiker und die Theologin: Gibt es Gemeinsamkeiten, über die Sie sprechen können?

Gregor Gysi: Selbstverständlich gibt es Gemeinsamkeiten! Es gibt ja vor allem im Neuen Testament lauter moralische Anforderungen, die im Leben der Menschen eine große Rolle gespielt haben. Auch wenn sie sich nie vollständig verwirklicht haben und sich auch nie vollständig verwirklichen werden, bleiben sie ein Maßstab. Und die Linke, die sich auch nach bestimmten moralischen Maßstäben richten will und meines Erachtens auch muss, wird hier immer Gemeinsamkeiten finden, und zwar völlig unabhängig davon, ob man individuell an Gott glaubt oder nicht. Hinzu kommt die Bekämpfung der Armut, das war ja ursprünglich im Christentum auch immer ein wichtiges Anliegen. Und die Linke entstand aus der Sehnsucht der unterprivilegierten Schichten nach Gerechtigkeit.

Margot Käßmann: In etlichen Gesprächen haben wir schon Gemeinsamkeiten gefunden: „Selig sind die Friedensstiftenden“, die Frage von Rüstungsexporten – da sind wir uns inhaltlich sehr einig, aber auch in der Frage, wie wir mit dem derzeitigen Rassismus, dem Antisemitismus, der Menschenverachtung umgehen, gibt es tiefe inhaltliche Gemeinsamkeiten. Du kannst mit Menschen mit denselben Zielen einen gemeinsamen Weg gehen, auch wenn die Motive unterschiedlich sind.

Wie verstehen Sie den häufig zitierten Satz des Rechtsphilosophen Ernst-Wolfgang Böckenförde: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“ – Ein Plädoyer für die Religion?
G.G.: Böckenförde meint – und damit hat er meines Erachtens nicht unrecht: Wenn die Religion keine Rolle spielt in gesellschaftlichen Überzeugungen, dann ist es sehr schwer, einen freiheitlichen und demokratischen Staat zu etablieren. Das klingt merkwürdig, wenn ich das sage, aber andere gesellschaftliche Gruppen sind momentan gar nicht in der Lage, eine allgemein verbindliche Moral zu installieren. Sie können zwar Moralnormen formulieren, aber sie haben nicht die Kraft, sie allgemein verbindlich zu machen. Man darf die Tradition nicht vergessen. Zu Weihnachten stellen viele Christinnen und Christen fest, dass sie doch wieder nicht so gelebt haben, wie es ihnen Jesus in der Bergpredigt nahegelegt hat, kriegen ein schlechtes Gewissen und spenden. Und die Nicht-Gläubigen spenden vor Schreck gleich mit, so dass wir in Deutschland zu Weihnachten das höchste Spendenaufkommen haben. Auf der anderen Seite sind Kirchenstaaten für mich auch eine gruselige Vorstellung, nicht nur wenn ich an islamistische Staaten denke. Die drei Staaten im Nahen Osten, die eine Trennung von Staat und Kirche hatten – Libyen, Irak, Syrien –, sind alle drei kaputt; darüber lohnt es sich nachzudenken.

M.K.: Wenn Religion fundamentalistisch wird, kann sie den demokratischen Staat nicht stützen. Religion muss so tolerant sein – es ertragen –, dass Andere andere Wahrheiten gefunden haben. Dann kann sie mit ihrem Wertesystem zu diesem freiheitlichen säkularisierten Staat beitragen, als Werte-Angebot.

Ihre Herkunftsgeschichten könnten unterschiedlicher nicht sein: Welchen Wert hatte Arbeit in Ihrer Familie?

M.K.: Bei uns spielte Arbeit eine große Rolle, denn meine Eltern mussten nach dem Krieg ohne alles neu anfangen. Meine Mutter hat immer gearbeitet – als Krankenschwester, als Taxifahrerin, an der Tankstelle. Das war für uns Töchter wichtig, wir sind alle berufstätig gewesen. Das war im Westen Deutschlands anders als im Osten. Dass eine Frau auch für sich selbst sorgen können muss, das hat uns unsere Mutter eingeimpft. Von Zuhause aus habe ich auch Respekt vor anderer Leute Arbeit gelernt: Neulich hat sich jemand in meiner Umgebung abfällig über die Müllabfuhr geäußert; das konnte ich überhaupt nicht nachvollziehen.

G.G.: Sie gehörten in gewisser Hinsicht zu einer Ausnahmefamilie: In Reklamefilmen der 50er und 60er Jahre der Bundesrepublik wurde gezeigt, wie schön es ist, wenn die Frau die Wäsche für den Mann waschen und bügeln darf – das habe ich kaum ausgehalten! In der Gleichstellung der Geschlechter war die DDR weiter als die Bundesrepublik. Einiges hätte man übernehmen sollen. Dann wäre die Einheit anders verlaufen, weil die Ostdeutschen dann mehr Selbstbewusstsein und die Westdeutschen Lebensqualität hinzugewonnen hätten.

Auch meine Eltern waren sehr fleißig und sie hatten ebenso Respekt vor harter Arbeit, die sie nicht verrichten mussten, zum Beispiel im Bergbau. Mein Vater sagte, du siehst da eine Bewegung, die ein Arbeiter macht; aber das macht er achteinhalb Stunden! Ich war „Opfer“ einer zwar schwachsinnigen Regelung von Frau Honecker – dass Schüler der Erweiterten Oberschule eine Berufsausbildung zu machen hatten –, lernte aber dadurch den Beruf eines Rinderzüchters. Ich merkte, wie hoch die Arbeitsmoral gerade von Bäuerinnen und Bauern ist: Du kannst nicht nicht ernten, du kannst nicht nicht füttern, nicht nicht melken!

Was bedeutet Arbeit für die Politik? Gibt es eine Ideologisierung von Arbeit?
G.G.: Politiker verwechseln gerne ihre Arbeit mit der anderer. Wenn wir den Eintritt ins Rentenalter immer weiter nach hinten verlegen mit der Begründung, dass die Menschen immer älter werden, prüfen wir nicht, ob sie heute mit 65 wirklich fitter sind als vor 30 Jahren oder sich nicht eher die Medizin entwickelt hat. Rein theoretisch kann ich mit 90 noch Schnee im Bundestag erzählen, ohne dass es auffällt. Lacht. Aber ich kann eben kein Dach mehr decken und keine Operation durchführen. Wir müssen mehr Sicht haben für andere Arbeiten. Tatsächlich finde ich nicht so sehr die Arbeit ideologisiert, eher unser Unternehmertum und unsere politische Öffentlichkeit; sowohl die Konservativen als auch die demokratischen Linken sind zu wenig tolerant.

M.K.: Mir ist wichtig, dass bei dem Begriff Arbeit nicht nur die Erwerbsarbeit gemeint ist, sondern auch Pflege, Erziehung, der ganze Care-Bereich. Wenn ein schwerbehinderter Mensch sich selbst versorgt, ist das Arbeit! Der Arbeitsbegriff ist zu sehr auf Entlohnung mit Geld reduziert ...

G.G.: Das stimmt; Sie meinen die Arbeit, die häufig von Frauen gemacht wurde und wird. Und es gehört zu einer patriarchalen Gesellschaft, dass dies nicht als Erwerbsarbeit gilt. Auch die berufliche Pflegearbeit, bei der etwa 200.000 Kräfte fehlen, ist völlig unterbewertet. Hier geht es nicht um 5 oder 10 % Lohnerhöhung, sondern um eine Verdoppelung der Löhne! So gäbe es in den sogenannten Frauenberufen wie Kindergärtnerin, Altenpflegerin etc. auch sofort mehr Männer.

Sie beide sind sehr umtriebig: Können Sie auch mal alle fünf gerade sein lassen, faul sein?
M.K.: Nichtstun ist nicht meine Alternative, mein Lebensziel. Aber ich kann schon mal einen Tag sagen, heute ist nichts auf dem Programm, das genieße ich.

G.G.: Ich weiß gar nicht, was alle fünf sind (lacht). Klar bin ich aktiv, aber ich freue mich immer auf ein Ziel, den Osterurlaub, Weihnachten – und dann genieße ich auch die Entspannung. Aber nach einer Weile werde ich wieder unruhig ...