In welchen Momenten sind Sie spirituell berührt?
Stephan Wahl: Wenn ich bei uns in Jerusalem vom Zionsberg auf das Kidrontal und den Ölberg schaue und dann den alten Weg ins Tal und dann nach Gethsemane gehe, dann denke ich: So hat dieser Teil von Jerusalem zur Zeit Jesu auch ausgesehen; diesen Weg wird er auch gegangen sein. Ebenfalls war ich immer berührt, wenn ich in meinem Trierer Heimatdom die Messe gefeiert habe und dachte, dass an dieser Stelle seit dem 4. Jahrhundert immer jemand gestanden und das Evangelium verkündet hat, in ununterbrochener Reihenfolge. Was mich auch immer wieder berührt, ist die Weite: wenn ich aufs Meer schaue oder nachts in den Sternenhimmel oder jetzt in Israel, die Zeiten in den Wüsten Negev oder Juda – ursprüngliche Landschaften, in denen die Stille spürbar ist.
Margot Käßmann: Stille am Meer kann mich sehr berühren. Und Orgel und Johann Sebastian Bach...
S.W.: Bei Musik bin ich auch dabei, Bach ist gesungenes Evangelium, Arvo Pärt berührt mich und vor allem die zweite Symphonie von Gustav Mahler, die Auferstehungsymphonie, die packt mich jedes Mal.
Gibt es konfessionelle Unterschiede?
S.W.: Das glaube ich eigentlich nicht. Ich glaube, es gibt Unterschiede darin, wie spirituell offen Menschen als Menschen sind. In puncto Frömmigkeitsformen gibt es natürlich, traditionell bedingt, verschiedene, sich aber auch bereichernde Akzente.
M.K.: Ich denke, dass die Protestanten lange sehr vom „Wort allein“ geprägt waren. Aber die Sehnsucht nach Erfahrbarkeit des Glaubens hat sich von der kirchlichen Basis her durchgesetzt – seit der Mitte des letzten Jahrhunderts vor allem durch Frauen. Das wurde zunächst belächelt – Schweigen, Pilgern, Meditation. Ökumenisch haben wir uns an dieser Stelle neu angenähert.
Brauchen unsere Kirchen mehr Spiritualität?
S.W.: Auf jeden Fall! Mehr Mut zu facettenreicherer Spiritualität, weniger Verwaltung, weniger Gesetze, Vorschriften im Alltagsleben – mehr Freiheit, größere Weiten von Spiritualität zuzulassen. Da sind wir manchmal sehr eng und zu ängstlich. Leider.
M.K.: Ich schätze eine gute Predigt sehr. Aber manchmal ist diese Wortlastigkeit in unseren Gottesdiensten, in denen du so wenig erfahrbar spüren kannst vom Glauben, eine große Hemmschwelle. Der Gottesdienst ist dann eher eine intellektuelle Übung. Du solltest im Gottesdienst auch etwas spüren können.
Worin unterscheidet sich Ihrer Meinung nach Spiritualität von Frömmigkeit?
M.K.: Frömmigkeit hat für mich oft so etwas Strenges, eine Maßgabe, bei der ich eher Druck empfinde. Bei Spiritualität empfinde ich eher Freiheit. Ich habe ein Zitat von Fulbert Steffensky gefunden: Spiritualität könnte eine gute Form sein, Glaube, Frömmigkeitsübung und Lebensgestaltung zusammenzudenken... Dass wir also nicht so wort- und handlungsorientiert sind, sondern das Fühlen, die Emotion Raum bekommt.
S.W.: Spiritualität ist für mich eine Haltung. Wenn ich ein spiritueller Mensch bin, bin ich offen für das je Größere, was mein Alltagsleben übersteigt. Dann bin ich empfindsam, wenn ich am Meer stehe oder in den Sternenhimmel schaue. Dann bin ich offen für Gott außerhalb von Kirchenräumen. Frömmigkeit ist mehr an Formen gebunden, gute uralte Formen wie Rosenkranzbeten, Andachten, die Eucharistie helfen, den Glauben im Alltag zu leben, sind wie ein enorm stützendes Geländer. Spiritualität aber ist größer als Frömmigkeit und findet immer neue Wege und Ausdrucksformen.
Haben Sie so etwas wie spirituelle Lehrmeister oder Lehrmeisterinnen?
S.W.: Ich bin Jesuitenschüler und ganz wichtig und prägend war und ist für mich der Hl. Ignatius von Loyola: „Omnia ad maiorem dei gloriam!“ Alles zur größeren Ehre Gottes. Mein Primizspruch zur Priesterweihe stammt von unserem Schulpatron und Jesuiten, dem Hl. Aloisius von Gonzaga: „Quid hoc ad aeternitatem?“ Was bedeutet dies für die Ewigkeit, wiegt das vor dem Ewigen, also, was ist wirklich wichtig? Mir sehr lieb geworden ist die kaum bekannte französische Dichterin Marie Noel (1883–1967); deren Tagebuch ist für mich eine immerwährende Quelle von Ermunterung und Ermutigung – genauso wie die Bücher von Thomas Merton (1915–1968). Oft trifft mich auch ein lyrischer Gedanke... etwa in den Gedichten von Hilde Domin, Marie Luise Kaschnitz. Auch wenn die Intention vielleicht nicht direkt religiös war, wie beispielsweise bei Arnfrid Astel.
M.K.: Evangelische Spiritualität ist ganz stark durchs Singen geprägt: Paul Gerhardt ist für mich ein spiritueller Lehrmeister. Seine Lieder zu singen, ist eine spirituelle Erfahrung. Und die andere ist Dorothee Sölle: Je älter diese politische Theologin wurde, desto poetischer wurde sie. Ihr letztes Buch, über das sie gestorben ist, behandelte die Mystik des Todes. Das war eine erstaunliche Entwicklung hin zu einer Mystikerin.
SW: Die Liebe zu den Liedern finde ich bei den evangelischen Freunden großartig. Ich gehe gern immer wieder mal in die evangelische Erlöserkirche bei uns in Jerusalem, um von einem Lied alle Strophen zu singen (was bei uns Katholiken ja selten vorkommt. (lacht)
Viele Menschen haben das Gefühl einer drohenden Gesamtkatastrophe – und dabei gleichzeitig das Bedürfnis nach einem neuen, „reinen“, geistlichen Leben? Wie sehen Sie die Zukunft: Wird sie spirituell?
M.K.: Die Hoffnung habe ich, aber ich fürchte, dass die meisten Menschen eher materialistisch denken. Wir leben in einer Gesellschaft, in der es ganz stark darum geht: Ich konsumiere, also bin ich... daher bin ich skeptisch, dass die Zukunft insgesamt spirituell wird.
S.W.: ... ja, auch bei mir ist die Hoffnung größer als die Erwartung ...