Mitten im Leben: Sie beide kommen aus sog. „einfachen“ Verhältnissen. Wie hat Sie das geprägt?
Uschi Glas: Ich habe mich früh dafür entschieden, mich um mich selbst zu kümmern. Wenn ich im Leben einen Traum verwirklichen möchte, muss ich das selber in die Hand nehmen. In meiner Jugend gab es viele gut gestellte Freunde, die sich nicht Gedanken darum machen mussten, wie sie ihre Miete bezahlen würden, wenn sie nach München zogen, die gesettelt waren. Das war ich nicht. Schon als kleines Mädchen habe ich gesehen, wie meine Mutter Tag und Nacht gearbeitet hat und trotzdem fragen musste, ob im Budget ein neues Kleid drin ist. Das wollte ich nicht; ich wollte unabhängig sein, mich auf meine Hinterbeine stellen und selbst aus meinem Leben etwas machen.
Margot Käßmann: Ich kann heute sagen, ich bin dankbar für das, was mir das Leben geschenkt hat. Menschen, die eher „gepampert“ waren, kennen diese Dankbarkeit oft nicht. Und als Pfarrerin half es mir, eine Sprache zu haben, die nahe am Alltag der Menschen ist.
Was wollten Sie Ihren Kindern mitgeben?
U.G.: Im Nachhinein könnte ich vieles besser machen (lacht). Mein Erziehungsprinzip lautet: vorleben und lieben. Ich wollte meinen Kindern zeigen, wie ich mich anderen Menschen gegenüber be- nehme, Dankbarkeit und Demut zu empfinden, nicht alles als gegeben hinzunehmen, Leistung zu bringen... Vielleicht war ich zu großzügig im Laufenlassen, vielleicht hätte ich mehr Schranken aufzeigen, Grenzen setzen müssen. Ich konnte es halt nur so, mit meiner Liebe – vielleicht Affenliebe – großzügig sein und ihnen einfach nur zeigen, wie ich das mache. Lieben heißt auch, tolerant zu sein.
M.K.: Ich würde mich gar nicht recht- fertigen, denn unsere Generation wollte doch ganz anders erziehen, nicht durch Druck, Strafe, Angst. Ich habe auch laufen lassen...
U.G.: Da haben Sie vollkommen recht. Ich bin streng erzogen worden. Es gab kein Widerwort. Ich war als kleines Mädchen ziemlich zornig, wenn der Vater sagte: Schluss jetzt!, ich aber weiter diskutieren wollte.
M.K.: Kinder sind nicht nur Objekte der Erziehung, sondern müssen auch als Subjekte ernst genommen werden. Ich wollte Vertrauen vermitteln – auch Gott- vertrauen – und bei der Liebe wäre ich auch dabei: Wenn ich mich selbst liebe, kann ich auch andere lieben.
Wie engagieren Sie sich für Kinder?
U.G.: Für jedes Kind, das ich zur Welt bringen durfte, habe ich über die Kindernothilfe ein Patenkind dazu angenommen. Und wenn dieses dann mit zwölf Jahren aus der Betreuung war, habe ich ein neues bekommen. Mittlerweile gibt es seit über zehn Jahren unseren Verein „brotZeit“, der etwa 11.000 Kinder in acht Bundesländern mit einem täglichen Frühstück versorgt. Wir definieren Brennpunktschulen, in denen der Bedarf groß ist, und bieten dort vor Schulbeginn ein großes gesundes Frühstücksbüffet. Das machen Seniorinnen und Senioren, die für die Kinder so etwas wie eine Ersatzfamilie sind, denn sie geben nicht nur Brot, sondern auch Zeit.
M.K.: Als Bischöfin habe ich u.a. „Zukunft(s)gestalten“ ins Leben gerufen, ein Projekt gegen Armut von Kindern. Jetzt bin ich Botschafterin für terre des hommes, die sich für Kinder in vielen Ländern dieser Erde engagieren, aber auch für Kinder in Deutschland, weil auch in Deutschland viele Kinder arm sind, auch wenn sie anders arm sind als beispielsweise auf den Philippinen oder in Nigeria.
U.G.: Ja genau, Kinder, die arm sind an Zuwendung, nicht nur weil sie hungrig sind und deswegen nicht am Unterricht teilnehmen können; sie sind zornig und aggressiv, weil sie immer benachteiligt sind, nie wichtig. Leider Gottes gibt es in Deutschland viele solcher Kinder. Geschätzt geht jedes vierte Kind ohne Frühstück und Pausenbrot zur Schule und ist dadurch abgehängt, denn mit hungrigem Bauch kannst du dem Unterricht nicht folgen.
Was wünschen Sie sich von der Politik in Bezug auf Kinder?
U.G.: Die Unterstützung für Kinder müsste unbedingt bei den Kindern an- kommen und nicht irgendwo sonst im Haushalt verschwinden. Zum Schulanfang sollte man darauf achten, dass die Kinder wirklich einen Schulranzen haben und nicht in der vierten Klasse noch mit einem Plastiksackerl kommen, weil das Geld dafür für etwas anderes genommen wurde. Da müssten Wege gefunden werden, dass das Geld wirklich bei den Kindern ankommt, so dass sie ihre eigenen Malstifte haben, ihre eigenen Blöcke, ihre eigenen Turnsachen und nicht immer nur etwas Abgelegtes. Die Kinder sollen sich vollwertig fühlen und stolz sein können.
M.K.: Es gibt die Diskussion um die Deutschkenntnisse der Schülerinnen und Schüler. Das Startpotential ist so unterschiedlich. Daher bin ich für ein Kindergartenpflichtjahr vor der Einschulung, damit Kinder gut vorbereitet in die Grundschule kommen.
Was wünschen Sie sich von der Gesellschaft und den Kirchen in Bezug auf Kinder?
U.G.: Mir tut weh, dass die Kirchen sich so schwertun, gemeinsam aufzutreten, anstatt zu sagen: Du denkst so, ich etwas anders. Jeder darf sich doch selbst Ge- danken machen über Gott, übers Weiterleben nach dem Tod, wie er glauben mag, wie er demütig ist. Derweil sollten sich die Kirchen stark machen und die jungen Leute mit diesem Glück ausstatten: was es bedeutet, wenn ich mich begleitet fühle. Jeder Mensch hat vermutlich schon mal eine Situation erlebt, wo er im Nachhinein sagt: Menschenskinder, was habe ich da für ein Glück gehabt, da war ein Schutzengel da! Und die Gesellschaft kann nicht nur sagen, da muss halt der Staat ran, ich zahle ja Steuern – wir sollten wieder ein bisschen über unseren Tellerrand hinausschauen, wie es unserem Nachbarn geht, demütig sein, tolerant.
M.K.: Wir sollten Eltern zur Seite stehen, die unsicher in der Erziehung sind. Ich denke an ein Kindertheaterprojekt, für das viele Menschen gespendet haben, damit Kinder aus sozial schwachen Familien mal ins Theater gehen konnten. Aber sie kamen nicht, weil die Eltern gar nicht auf die Idee kommen, ihre Kinder könnten ins Theater gehen. Wir brauchen eine aktivierende Begleitung aus dieser Lethargie heraus, den Kindern auch mal ein Buch vorzulesen beispielsweise. Natürlich auch die biblischen Geschichten.
„Gebt den Kindern das Kommando“, singt Herbert Grönemeyer. Stimmen Sie ihm zu?
U.G.: Ein schönes Lied, wirklich. Und natürlich sollen die Kinder eine Stimme haben; das „Halt den Mund“ geht gar nicht. Aber die Sorge um die Kinder, die Fürsorge und Verantwortung liegen bei den Erwachsenen.
M.K.: Ich würde Kinder nicht idealisieren. Aber wenn die Mächtigen die Welt auch mal aus der Perspektive der Kin- der sehen würden, das wäre wichtig. Bei der Fridays for Future-Bewegung sollten die Politiker nicht sagen, die Kinder und Jugendlichen haben keine Ahnung, sondern deren Sorge um die Zukunft ernst nehmen.