Eine Krebsdiagnose kommt in der Regel aus heiterem Himmel. Sie wirft sofort deine ganze Lebensplanung um. Du musst alles, was du dir vorgenommen hast, in Frage stellen, nicht nur Termine absagen, Familienplanungen über den Haufen werfen, sondern dich plötzlich ganz und gar den Bedingungen der Krankheit unterordnen. Denn die Vorgaben der Medizin: Operation, Bestrahlung, Chemotherapie werden dein Leben in den nächsten Monaten dominieren. Und sollte der Krebs nicht heilbar sein, musst du der Tatsache ins Auge schauen, dass dir nicht mehr viel Lebenszeit bleibt.
Eine ernsthafte Erkrankung ist ein massiver Einschnitt im Leben. Menschen hadern damit. Das ist ein Gefühl von Verzweiflung, ja Wut. Ich habe doch nicht gesundheitsschädlich gelebt, hatte noch so viel vor, gerade jetzt war mein Leben so gut in der Balance. Eine Litanei des Haderns spielt sich ab. Ist mit der Krebsdiagnose mein Leben auf einmal sinnlos? Warum ich?
Seltener kommt es zu der Frage: Warum ich eigentlich nicht?, obwohl sie ja auch angemessen ist. Kurz bevor die Schauspielerin Hendrikje Fitz 2016 mit 54 Jahren an Brustkrebs starb, sagte sie: „Es gibt keinen Grund, dass ich hadere, ich hatte ein super Leben! ... Ich stelle mir nicht die Frage, warum ich. Diese Krankheit kann jeden treffen.“ Das ist eine Haltung, die mir imponiert! Ja, wenn so viele Frauen an Brustkrebs erkranken, warum sollte ich nicht dazu gehören? Wenn Prostatakrebs so oft diagnostiziert wird, warum bin ich nicht bewusst dankbar, dass „dieser Kelch an mir vorüber geht“? Es ist wohl schlicht menschlich, dass so sehr selten gefragt wird. Stattdessen sind die Betroffenen schockiert, entsetzt, verzagt. Dazu kommt die Betroffenheit der anderen, die schnell zur Belastung werden kann. Der Partner oder die Partnerin, Eltern oder Kinder, Freundeskreis und Arbeitskollegen sind ja ebenso schockiert. Manchmal ist der oder die Erkrankte mehr damit beschäftigt, die anderen zu trösten als Zeit für die eigenen Gefühle zu haben. Und es gibt den Eindruck, plötzlich ganz auf die Erkrankung reduziert zu werden. Warst du gestern noch Geschäftsführerin oder Einkaufsleiter, schauen die Menschen dich jetzt an und denken nur noch daran, dass du „Krebs hast“.
Als ich selbst mit der Krebsdiagnose konfrontiert wurde, war ich derart in eine Arbeitssituation eingespannt, dass ich meiner Ärztin sagte, ich könne mich jetzt wirklich nicht operieren lassen, da seien zu viele Termine und Verpflichtungen, vielleicht später irgendwann.Ihre Antwort war: „Wenn ich Sie wäre, würde ich mich allerschnellstens operieren lassen!“ Und mir wurde schlagartig klar: Es geht um viel, vielleicht um alles. Wenn ich jetzt nicht handle, werde ich in absehbarer Zeit gar keine Termine mehr wahrnehmen können.
Im Psalm 90 heißt es: „Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden.“ Was für ein bewegender Text, auch dreitausend Jahre später. Wer die Grenze des Lebens nicht ignoriert, für den wird das tagtägliche Rennen nach Ruhm, Erfolg und Geld in ganz andere Zusammenhänge gesetzt. Sterben und Tod bringen Angst, Schmerz und Trauer mit sich. Nur denke ich, dass diese tiefen existentiellen Erfahrungen unser Leben nicht verschlechtern, sondern bereichern. Eine Krebsdiagnose lässt manches in anderem Blickwinkel erscheinen. Einen Sterbenden zu begleiten, gibt vielen Dingen eine neue Gewichtung. Wir lernen viel über das Leben in solchen existentiellen Situationen. Und wir erfahren unseren Glauben neu – gerade im Fragen, angesichts aller Zweifel und Ängste.
Im christlichen Glauben muss ich den Schmerz des Todes nicht leugnen. Die weinenden Frauen unter dem Kreuz zeigen sehr real, wie bitter es ist, einen lieben Menschen zu verlieren. Der Tod Jesu zeigt, wie schwer Sterben sein kann. Aber der Tod hat nicht die endgültige Macht. Dafür steht das Kreuz. Am Ende wird es sich nicht als Sackgasse eines jungen Lebens erweisen, sondern als Doppelpunkt hin zu neuem Leben.
Das kann niemand beweisen, das kann nur geglaubt und gehofft werden. Zeigt die Horizontale des Kreuzes den Horizont, die Begrenztheit des irdischen Lebens auf, weist die Vertikale in Richtung Himmel und Gottes Ewigkeit, in der alles neu werden kann. So drückt es der zweite Petrusbrief voller Hoffnung aus (3,13): „Wir warten aber auf einen neuen Himmel und eine neue Erde nach seiner Verheißung, in denen Gerechtigkeit wohnt.“ Die ausgebreiteten Arme des selbst leidenden Jesus sind auch ausgestreckt hin zu den anderen, die leiden. Von der Erde her weist das Kreuz gleichzeitig auf den Himmel hin, die Zukunft bei Gott, auf die wir hoffen dürfen.
Für mich sind Gespräche über Sterben und Tod immer eine Bereicherung. Selten ist ein Gespräch so existentiell und tiefgründig. Ich kann nur ermutigen: Wir müssen nicht alles auf uns zukommen lassen, verdrängen, sondern können ja auch gestalten, wie wir mit Krankheit umgehen, wie wir alt werden, wie wir sterben wollen.
Natürlich müssen wir nicht alle jeden Tag über das Sterben reden. Aber es gibt unendlich viele Geburtsvorbereitungskurse, was machen werdende Eltern da heute nicht alles. Nur auf das Sterben will sich niemand vorbereiten, dabei ist das doch wichtig für uns und unsere Angehörigen.
Jesus spricht davon, dass diejenigen, die an ihn glauben, ewiges Leben haben werden. Nach hebräischem Verständnis meint der Begriff der „Ewigkeit“ so viel wie „Teilhaben an der kommenden Welt“. Das ist weniger ein Rätsel, das wir lösen könnten, als das große Geheimnis Gottes. Heinz Zahrnt schreibt: „Wohin Gott durch den Tod uns führt, bleibt ein Geheimnis. Mit einem Geheimnis aber kann man leben, wenn man Vertrauen hat.“ Um solches Vertrauen geht es im christlichen Glauben.