Zu meinem allerersten Besuch in Japan war ich 1985 eingeladen. Auf der kleinen Insel Okinawa fand eine Friedenskonferenz statt. Jahre später war ich eingeladen, Bibelarbeiten zu halten, um eine internationale Frauenkonferenz vorzubereiten. Die Tagung fand in Tokio statt.
In meiner Zeit als hannoversche Landesbischöfin lud mich der Oberbürgermeister in die Partnerstadt Hiroshima ein, an einem 8. August anlässlich der Gedenkveranstaltung für die Opfer des Atombombenabwurfs von 1945 einen Beitrag zu leisten. Ich war sehr beeindruckt von den Tausenden von Menschen, die an der Zeremonie teilnahmen und ihren Friedenswillen bekundeten.
2016 war ich auf Einladung der United Church of Christ in Japan. Sie hatte eine Konferenz in Vorbereitung des Reformationsjubiläums 2017 vorbereitet. 30 Jahre nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl wurde aber auch ein Besuch in Fukushima eingeplant. Mir ist dieser Besuch in geradezu gespenstischer Erinnerung geblieben. Wir fuhren mit Geigerzählern ausgestattet in das kontaminierte Gebiet. Besonders beeindruckt hat mich Yonomori, eine wunderschöne kleine Stadt, zehn Kilometer vom Reaktor entfernt. Der Name bedeutet „Wald in der Nacht“. Zu sehen sind Alleen mit Kirschbäumen, die die Blüte gerade hinter sich haben. Alles ist verlassen, abgesperrt, kein Ton ist zu hören außer dem Piepsen des Geigerzählers. Die Magnolien blühen. Autos mit platten Reifen rosten vor sich hin. Auf einem Balkon hängt noch Wäsche – die Evakuierung verlief ganz offensichtlich Hals über Kopf, die Menschen hatten nicht einmal eine Stunde Zeit, ihre Häuser zu verlassen. Yonomori ist eine totenstille blühende Stadt ohne Menschen. Die Parkplätze vor den netten kleinen Geschäften wachsen langsam zu. Es ist geradezu unheimlich tonlos. Wir sehen ein Eichhörnchen über die Straße laufen und ich frage mich: Was macht das alles mit der Tierwelt? Die Pastorin der deutschen Gemeinde in Tokio, Gabriele Zieme-Diedrich, erzählt, dass die Familien meist im überhasteten Aufbruch ihre Hunde zurückgelassen haben, die nun herumstreunen. Einige Häuser sind offensichtlich erdbebengeschädigt, manche sicher nicht zu retten, andere vollkommen intakt. Die Ampeln funktionieren noch und blinken. In einem Laden hängen Kleider im Schaufenster. Der Geigerzähler am Straßenrand zeigt 2,1.
Fünf Kilometer weiter endet die Sperrzone. Das Leben scheint fast normal. Der Geigerzähler zeigt 0,29. Die Mandelbäume blühen. Wir kommen zu einem Ferienresort mit Hotel, Zeltplatz und großem Kinderspielplatz direkt über dem Pazifik. Es ist ein grandioser Ort, aber menschenleer. Wer hinunter landeinwärts schaut, kann verstehen, warum. Riesige Mengen von Plastiksäcken mit kontaminierter Erde werden hier gelagert und zu je Tausenden mit Plastikplanen abgedeckt. Auf einem Schild steht, dass die Tsunamiwelle hier 10,5 Meter hoch war. Im nächsten Dorf sind wunderschöne Häuser mit Pazifikblick zu sehen. Alle sind verlassen. Im Meer sind drei Windkraftanlagen zu sehen. Auf einem Schild steht, das sei „Fukushima FORWARD“. Von Atomkatastrophe oder nuklearer Belastung kein Wort.
All das zeigt eine gewisse Hilflosigkeit. Weder kann die verseuchte Erde auf Dauer so lagern, noch kann der Deich zehn Meter hoch werden. Ministerpräsident Abé habe die Region besucht, erzählt unsere Reiseleiterin Junko Kikuche und hier demonstrativ Fisch gegessen. Auch lässt er offenbar viel Geld in die Region fließen, um zu zeigen, dass die Regierung alles im Griff hat. Alles ist gut in Fukushima?
Was für ein wunderbarer Flecken Erde mit Bergen auf der einen Seite und dem Pazifik auf der anderen. Das Klima ist mild, es wird maximal 28 Grad warm im Sommer. Die nukleare Verseuchung ist nicht zu sehen, nicht zu riechen, nur der Geigerzäher schlägt weiter an. Unheimlich ist das. Für mich ist dieser Besuch ein Sinnbild dafür, dass der Mensch die Geister, die er rief, nicht beherrschen kann. Das Misstrauen der Menschen, mit denen wir sprechen, ist groß. Sie trauen den Aussagen der Regierung nicht. Und nicht denen der Betreiberfirma Tepco. Deshalb haben sie an vielen Ort selbst Geigerzähler aufgestellt: an Schulen beispielsweise und an Kitas.
Vor allem die Angst der jungen Mütter ist nach wie vor groß. Das ist gut zu verstehen, aber warum bleiben sie, fragen wir. Es gibt viele Gründe, warum Menschen nicht weggehen, erklärt eine sehr engagierte junge Frau. Zwei, drei Generationen wohnen zusammen. Die junge Mutter will vielleicht gehen, aber Mann oder Eltern wollen bleiben. Teilweise leben Familien seit 500 Jahren in dieser Gegend, hier ist ihre Heimat. Die älteren Leute wollen nicht verstehen, warum ihr so schönes Gemüse, das sie traditionell gern anbauen, nicht mehr gesund sein soll. Der Familienvater hat einen Betrieb mit 70 Angestellten – soll er den verlassen? Das bringt Konflikte in Familien. Und: Der Großraum Fukushima ist nicht anerkannt als verseuchte Region. Daher kann eine normale Familie es sich finanziell gar nicht leisten, wegzugehen.
Manche Alte gehen offenbar in die verstrahlten Häuser zurück. Wenn sie ohnehin bald sterben müssen, dann wollen sie wenigstens zuhause sein...